Verzweifelte Angehörige

Querdenker: Auch in Erlangen und Erlangen-Höchstadt wird die Szene größer

22.9.2021, 13:49 Uhr
Im August 2020 demonstrierte die "Querdenken"-Bewegung an der Berliner Siegessäule. 

© Mehrdad Samak-Abedi via www.imago-images.de, imago images/Mehrdad Samak-Abedi Im August 2020 demonstrierte die "Querdenken"-Bewegung an der Berliner Siegessäule. 

Die Verwirrung und Verzweiflung sind dem Mann aus dem Bereich Erlangen-Höchstadt deutlich anzuhören. Eine Stunde lang spricht er am Telefon, fast ohne Punkt und Komma, er braucht keine Fragen, es sprudelt auch so aus ihm heraus: "Mein Leben", sagt er gleich zu Anfang, "ist komplett anders, ich hätte nie gedacht, dass ich jemals in eine solche Situation komme".

Mit "einer solchen Situation" meint Peter Meier, der in Wirklichkeit anders heißt und dessen Identität diesem Medienhaus bekannt und die schützenswert ist, sein derzeitiges Eheleben in zwei getrennten Stockwerken - und in zwei völlig voneinander getrennten Welten. Während er im ersten Geschoss darüber spricht, wie er aus Angst vor sich und seiner wachsenden Aggressivität Hilfe bei Psychologen sucht, ist Martina, die ebenfalls anders heißt, unten im gemeinsamen Haus: "Sie sitzt in ihrem Zimmer", sagt Ehemann Peter Meier.

Nachrichten über Telegram

Was das bedeutet, weiß er: Sie liest und beantwortet E-Mails ihrer Querdenkerfreunde, verschickt Nachrichten über den russischen Messengerdienst Telegram (das amerikanische WhatsApp lehnt sie als manipulativ ab) und taucht somit immer weiter ab in ihre kruden Gedankenkonstrukte, in denen Impfungen gegen Corona zur amerikanisch-jüdischen Weltherrschaft und die Entscheidungen der Bundesregierung zur Gleichschaltung führen.

"Sie kann uns nicht hören", sagt Peter Meier zwischendurch - und auch das ist doppelt gemeint. Denn (auf) ihn und die erwachsenen Kinder hört die rund 50-Jährige nicht mehr, auch die ein oder andere Freundin, die sich nicht sofort abgewendet hat und die Auseinandersetzung noch immer sucht, kommt an Martina nicht mehr heran.

Aus Bekanntschaften von Besuchen bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen etwa in Berlin ist ein neuer Freundeskreis entstanden, aus einem E-Mail-Verkehr mit Mitgliedern der Reichsbürger inzwischen eine überzeugte Reichsbürgerin.

Es bleibt nur noch das Nachspionieren

Einen entsprechenden Ausweis müsste sie bereits haben, einen Antrag jedenfalls hat sie unterschrieben. Das weiß Peter Meier, weil er seiner Frau "nachspioniert", wie er zugibt, er liest ihre Briefe sowie ihre Kurznachrichten - und leidet unter diesem Verhalten selbst am meisten. "Aber was soll ich denn tun?", fragt er hilflos in den Hörer.

Diese Frage hört Hans Markus Horst oft. Besonders dann, wenn sich Familie und Freunde von Querdenkern und Corona-Leugnern aus dem regionalen Bereich an ihn wenden.

Und das werden seit Beginn der Pandemie und den damit verbundenen Protesten gegen die Corona-Politik auch in Erlangen und Umgebung immer mehr, berichtet der Leiter der Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen im Erzbistum Bamberg und Dekanatsbeauftragter für interreligiösen Dialog Erlangen. "Wie die Sektenbeauftragten im ganzen Bundesgebiet spüren auch wir den Anstieg", berichtet der Fachmann, der trotz aller Unterschiede doch auch Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Geschichten erkennt, "das Problem ist bei uns angekommen und geht durch alle Gesellschaftsschichten".

Es seien oft eine persönliche oder gesamtgesellschaftliche Krise (wie eben derzeit die Unsicherheiten durch und mit Corona) und der Wunsch nach Stabilität, was Menschen in die Arme von Querdenkern treibe, sagt Horst, der Diplom-Pädagoge und Theologe.

So wie Peter Meier ergeht es vielen, sagt Horst, die Angehörigen erkennen ihre Liebsten und sogar sich selbst nicht mehr wieder.

Da ist beispielsweise die Tochter eines Ingenieurs, die sich nicht gegen Sars-CoV-2 impfen lässt und ihren Kindern "zum Schutz" vor Corona Chlorbleiche verabreicht, das laut Impfgegnern und Corona-Leugnern auch gegen das sogenannte "Impfstoff-Shedding" (engl.: "abfallen") helfen soll.

Der Naturwissenschaftler, Vater und Großvater, sei fix und fertig, berichtet Horst, er kann nicht nachvollziehen, wie seine Tochter ernsthaft glaubt, dass Geimpfte Spike-Proteine des Corona-Impfstoffes ausstoßen, die dann Ungeimpften gefährlich werden könnten, genau das ist die Furcht vor "Impfstoff-Shedding".

"Chlorbleiche" sogar an Kinder und Schwangere

In entsprechenden Telegram-Gruppen wird die Verabreichung von Chlorbleiche (Chlordioxidlösung, kurz CDL) eben an Kinder und Schwangere empfohlen. "Der Großvater, der Zeit seines Lebens auf die Macht der Vernunft setzt, ist darüber entsetzt und merkt, dass er an seine Tochter und deren Lebensgefährten nicht mehr herankommt und hellhörig wird, wenn sogar den Kindern Chlorbleiche gegeben wird."

Oder der gut ausgebildete Investmentbanker, der auch aus dem Einzugsgebiet stammt, bereits viele Jahre im Ausland gearbeitet hat und nach einem beruflichen Misserfolg plötzlich dubiosen Heilmedizinern und deren antisemitischen und antiamerikanischen Parolen hinterherläuft. "Sogar wirtschaftlich orientierte Menschen wie dieser Manager fallen auf solche Vorstellungen herein und landen in einer Parallelwelt", berichtet Horst, "die Angehörigen sind schockiert und wissen nicht mehr, wie sie darauf reagieren sollen".

Doch was sollen und können sie überhaupt tun, wenn die Tochter beziehungsweise der Sohn oder Bruder in die Querdenker-Szene eintaucht? "Immer in dem Thema herumrühren oder Vorwürfe machen, hilft niemandem", sagt Horst. Wichtig sei der Austausch, sagt er. Die Angehörigen sollten Ruhe bewahren und versuchen herauszufinden, wie weit ihr Angehöriger schon in die Szene abgedriftet ist.

Das alles stelle die gesamte Lebenssituation infrage, oft sei das nur ein Aufhänger für eine größere Lebenskrise. Man müsse auch überlegen, ob man sich auf eine Diskussion einlassen will, oder besser nicht.

Rechtsextreme, Reichsbürger und Esoteriker

Doch eines ist für Horst klar: Sobald Äußerungen offen rassistisch, Holocaust-relativierend und antisemitisch werden, müsse man Gegenpositionen deutlich benennen und Grenzen dazu ziehen. Denn in der heterogenen Querdenker- und Corona-Leugner-Szene ist ein buntes Sammelsurium beispielsweise aus Rechtsextremisten, Reichsbürgern und Esoterikern. "Das ist anders als bei Sekten, in denen eine Ideologie im Zentrum steht, die alle vereint", sagt er, "oft wissen die Querdenker sogar selber nicht, wer genau dazugehört".

Auch die Gefahren, die von dieser Szene, die sich in weiten Teilen an QAnon orientiert, sind mit ihrer Radikalität und Gewaltbereitschaft viel größer als bei Mitgliedern einer Sekte. QAnon oder auch nur Q nennt sich eine mutmaßlich US-amerikanische Person oder Gruppe, die seit 2017 Verschwörungstheorien mit rechtsextrem Hintergrund im Internet verbreitet und auch enge Verbindungen zum früheren US-Präsidenten Donald Trump hat.

"Die Querdenker haben eine ganz andere Dimension als Sekten, sie wollen den Staat und die Demokratie untergraben und haben damit eine gesamtgesellschaftliche Relevanz, bei der man aufpassen muss, dass sie sich nicht zum Flächenband entwickelt", sagt Horst am Freitag, 17. September 2021. Wie recht der Erlanger Experte mit der Einschätzung hat, zeigt sich bereits wenige Stunden später.

Am Samstagabend, 18. September 2021, erschießt in Idar-Oberstein ein Maskenverweigerer einen jungen Tankstellenmitarbeiter, der ihn auf den Mund-Nasen-Schutz aufmerksam gemacht hatte; der 49-jährige vermutliche Täter soll sich mit Verschwörungstheorien der Querdenken-Szene radikalisiert haben.

Um solche Gewalttaten zu verhindern, müsse man sich Reichsbürgern, Rechtsextremen und sogenannten Querdenkern konsequent entgegenstellen, betont Horst, der für seine Haltung nicht selten Schmäh-Anrufe oder E-Mails aus ebenjener Ecke bekommt.

Angriffe von rechtsextremer Seite

Stefan Schmidt kennt sich mit Angriffen von rechtsextremer Seite ebenfalls aus - um ihn möglichst gut davor zu schützen, hat auch ihm dieses Medienhaus einen anderen Namen gegeben. Der Erlanger Geisteswissenschaftler ist bei der Landeskoordinierungsstelle (LKS) Bayern gegen Rechtsextremismus in der mobilen Beratung für den Großraum Nürnberg aktiv, also primär bei Vorfällen mit neonazistischen, extrem rechten, rechtspopulistischen und rassistischen Hintergründen tätig.

Aber so wie auch die katholische Beratungsstelle in Weltanschauungsfragen sind Schmidt und seine Kolleginnen und Kollegen seit Monaten immer wieder mit hilfesuchenden Angehörigen von Querdenkern und Corona-Leugnern konfrontiert. Mögliche Anlaufstellen für sie können zwar Sektenbeauftragte, die Landeszentralen für Politische Bildung oder eben seine Einrichtung sein, sagt Schmidt, aber geeigneter wären doch Programme dezidiert für das Phänomen Querdenker und deren Angehörige. Doch da gebe es noch "verflucht wenig", sagt Schmidt.

"Die Angehörigen von Querdenkern kommen auf jeden Fall auch zu uns", sagt er, "wir sind ja nicht nur für die in Anführungszeichen klassischen Rechtsextremen zuständig, es braucht keine Glatze oder Springerstiefel, damit wir tätig werden". Im Alltag äußere sich Rechtsextremismus ja ohnehin meist in Versatzstücken wie Rassismus, Antisemitismus oder Verharmlosung des Nationalsozialismus, die selten geballt auftreten, erläutert der Experte.

Wenn die Menschen dann zur mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus kommen, sei das aber schwierig, erläutert Schmidt. "Wir sind keine Psychologinnen und Psychologen, und wenn so etwas im Umfeld passiert, hat das ja enorme seelische Auswirkungen auf einen Angehörigen, aber für eine solche langfristige Hilfe bei der Krisenbewältigung sind wir einfach nicht ausgebildet."

Das Psychologische spielt bei ihm und seinen Mitstreitenden nicht das Zentrale, sondern das Politische. Und das ist beim Umgang mit Querdenkern, Reichsbürgern und Corona-Leugnern mit das Wichtigste überhaupt. So klären Schmidt und seine Kolleginnen und Kollegen unter anderem Pädagoginnen und Pädagogen über rechte Ideologien und ihre Mechanismen auf, helfen bei der Vernetzung zivilcouragierter Vereine und Gruppen oder stehen auch Eltern und Familien bei, deren Kinder sich rechtsradikalen Organisationen oder Kameradschaften anschließen.

Das Aufgabenfeld der Landeskoordinierungsstelle, die mit Mitteln von Bundes- und bayerischem Familienministerium gefördert wird, sind also breitgefächert und wichtig. "Wir haben schon jetzt so viel zu tun, dass wir kaum nachkommen", sagt Schmidt, "die Ressourcen würden da für einen weiteren Schwerpunkt gar nicht mehr ausreichen".

Doch dass Aufklärungs- und Beratungsbedarf im Bereich Corona-Leugner und Querdenker noch größer werden wird, darüber gibt es für Stefan Schmidt keinen Zweifel. Der Leiter der Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen, Hans Markus Horst, weist da zwar auch auf positive Entwicklungen hin, zum Beispiel die Löschung von „Querdenken“-Kanäle als „schädliches Netzwerk“ durch Facebook, eine bessere Aufklärungs- und Informationspolitik, entschiedenes Handeln von Justiz und Politik, die bundesweite Beobachtung von Gruppen und Personen aus der Querdenker-Bewegung und letztlich auch steigende Corona-Impf- und abnehmende Infektionszahlen.

Stefan Schmidt aber beurteilt die Entwicklung dennoch etwas skeptischer. "Das Problem wird bleiben und größer", sagt er, "auch wenn es die Pandemie nicht mehr gibt". Schon jetzt bereiteten extrem rechte Gruppen weitere Verschwörungserzählungen vor: "Neben der angeblichen Corona-Lüge gibt es ja schon das Narrativ der Klima-Lüge und sicher auch schon bald das der Bundestags- und Briefwahllüge - dann heißt es auch bei uns, die Abstimmung ist manipuliert und gestohlen - ganz so wie in den USA."

Vielleicht aber kann dann Peter Meier, der Angehörige aus Erlangen-Höchstadt, schon anderen helfen. "Ich glaube", sagt er am Ende des langen Gesprächs, "es gibt keine Selbsthilfegruppen, da bleibt mir nur eine Möglichkeit, ich gründe selbst eine, vielleicht können der Artikel und die Leser ja dazu beitragen".

Hier gibt es Hilfe für Betroffene und Angehörige

Freunde oder Angehörige von Querdenkern können sich gerne an die Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen im Erzbistum Bamberg wenden, Haus Kirchlicher Dienste, in Erlangen (Mozartstraße 29), Tel. (09131) 22419 sowie Fax (09131) 203675.
E-Mail: weltanschauung-bistum-bamberg@t-online.de; mehr Informationen dazu gibt es hier

Informationen und Kontakte der Landeskoordinierungsstelle Bayern gegen Rechtsextremismus gibt es hier oder telefonisch unter (0151) 21221207.

Wer Fragen zum Aufbau einer Selbsthilfegruppe für Querdenker-Angehörige hat oder Peter Meier dabei unterstützen möchte, kann sich an dieses Medienhaus wenden: sharon.chaffin@pressenetz.de - Die Daten werden vertraulich behandelt und an Peter Meier weitergegeben.

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