Schräge Mehrtonalität mit pausenloser "Maskerade"

23.6.2020, 18:34 Uhr

  Die Auflagen für dieses Konzert nach mehrmonatiger Corona-Zwangspause sind gravierend und werden in den teils widersinnigen Verpflichtungen vorbildlich eingehalten: Gut 250 Personen fasst die Konzertwerkstatt. Zugelassen sind 50 nach elektronischer Voranmeldung. Die Karten werden im Freien (mit Plexiglasscheibenpult) ausgehändigt. Die Besucher sitzen, in den Reihen verteilt von drei bis maximal sechs Personen (je nach Reihenlänge), mit weit mehr als 1,50 Meter Abstand einzeln. Alle frei zu haltenden Plätze sind mit einem Verbotsschild versehen, die Zuhörerplätze mit einem Programm.

Tilmann Stiehler, Leiter des EMI, macht aus der Not eine Tugend und veranstaltet mit dem gleichen Programm, das ja jeweils nur eine Stunde ohne Pause dauern darf, zwei Konzerte: eines ab 18 Uhr und ein weiteres ab 20.30 Uhr. Dazwischen wird quer gelüftet. Humorvoll kann der Musikschulleiter so jeweils "ausverkauftes Haus" vermelden. Schlechte Plätze gibt es bei dieser Frequenz auch nicht. Überall ist gut zu hören und zu sehen. Die zum größten Teil älteren Besucher zeigen sich hochdiszipliniert, befolgen Gänsemarsch-Einlass und -Austritt. Die Garderobe ist mit in den Saal zu nehmen, die Wege sind vorgegeben. Die Musikliebhaber tragen – ohne zu murren – ihre Masken während des ganzen Konzerts. Es gibt kaum Gespräche untereinander im Saal, nur flüchtige freudige Begrüßungen, Zuzwinkern, Winken – alles unter Wahrung des Abstands. Es herrscht eine andachtsvolle und gleichzeitig beklemmende Stimmung, eine hochkonzentrierte Stille im Saal, als die vier jugendlich wirkenden tschechischen Musiker endlich den Saal mit Maske und Instrumenten betreten, ihre Plätze einnehmen. Auch hier sind die Wege umständlicher, Abläufe komplizierter. Erleichterung ist spürbar, als die vier Streicher ihre Masken abnehmen.

Prägnante Kürze

Das in Prag beheimatete vorzügliche Bennewitz-Quartett eröffnet mit den etwa 20 Minuten dauernden "Fünf Stücken für Streichquartett" von Erwin Schulhoff. Die vier sym-pathischen Streicher (Jakub Fiser, Stepan Jezek, Jiri Pinkas, Stepan Dolezal) zeichnen die prägnante Kürze der suitenhaften Sätze mit aphoristischer Behandlung des Materials und differenziertem Klangreichtum, als Kennzeichen dieser frechen Musik am Puls ihrer Zeit (der 1920er-Jahre), charakteristisch pointiert nach. Die morbiden Farben und die schräge Mehrtonalität machen dies zu einem virtuosen und abwechslungsreichen Hörvergnügen.

Warme Klangfülle

Motorisch, von französisch anmu-tender Delikatesse, sind die beiden Allegrosätze (erster und dritter Satz), ein ironischer Seitenhieb auf Wiener Walzer-Sentimentalität steht an zweiter, ein nebulös-wogender Tango mit unwirklichem Ausklang an vierter Stelle. Im Finale hat Schulhoff seiner böhmischen Heimat ein volksmusikalisch inspiriertes Denkmal gesetzt, das abermals die mitreißende warme Klangfülle und -kongruenz der vier fabelhaften Streicher des Bennewitz-Quartetts beleuchtet. Toll!

Beethovens Streichquartett op. 132 mit dem berühmten Adagio-Satz "Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit" gehört zu den Heilig-tümern der Musikgeschichte. Das Bennewitz-Quartett versteht schon die Einleitung des ersten Satzes in fahle Schubert-Farben zu tauchen, beeindruckt mit Intensität und the-matischem Verweis auf das "Adagio". Die vier Musiker spielen den Choral, der wegen des lydischen Kirchentons und seiner altertümelnden Satztechnik an die alte Kirchenmotette der Palestrinazeit gemahnt, mit jenseitiger, ätherischer Empfindsamkeit. Das Stilzitat wird durch den schwebend-gesanglichen Duktus des Satzes in ein Gebet persönlichster Prägung verwandelt. Zwei "moderne" Episoden unterbrechen den Dankgesang; "neue Kraft fühlend", sind sie von Tanzrhythmen und den typischen Motiven des späten Beethoven geprägt. Über Werk und Interpretation bleibt ergriffenes Staunen. Das fliehende, in manchem schon brahms’sche Finale gibt den vollendeten Konzertabschluss. Mucksmäuschenstill ist es danach im Saal.

Ja, und dann folgt auf strahlende Zuhöreraugen, auf begeisterten Bei-fall die hoffnungsfrohe Bach-Choral-Zugabe mit der sinnigen Botschaft aus dem "Weihnachtsoratorium": "Brich an, du schönes Morgenlicht! Das ist der alte Morgen nicht, der täglich wiederkehret."

Ein glückseliges Konzentrat für Musikbegeisterte und -kenner fernab des Mainstreams. Für die Konzertveranstalter und Künstler ist solche Exklusivität wirtschaftlich freilich untragbar.

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