Skurriler Wirbel voller Virtuosität und Ausbrüche

18.1.2021, 18:54 Uhr

"Na, welche Schuhe ziehst du heute Abend ins Konzert an?": Die Antwort auf die Frage – von einem Familienmitglied gestellt – vereinfacht sich beim ersten "Streaming-Konzert", welches das Erlanger Musikinstitut (EMI) in Corona-Zeiten veranstaltet hat. Hausschuhe, dicke Wollsocken und auf geht’s in den Sofa-Konzertsessel im trauten Heim.Die technischen Voraussetzungen (Verbindung Laptop – TV-Bildschirm) hat der Schwiegersohn freundlicherweise geschaffen. Das war vergleichsweise einfach und präsentiert dem hier schreibenden Streaming-Neuling eine großartige Bildfläche auf den bekannten Saal der EMI-Konzertwerkstatt.

Pünktlich ab 18 Uhr bewegt sich das Bild. EMI-Leiter Tilmann Stiehler, korrekt im Anzug, begrüßt mit leichter Nervosität das Publikum, bedankt sich im leeren Saal für das anhaltende Interesse des Stammpublikums trotz widriger Corona-Umstände.

Längst hat sich die Kunde von musikalischen Sternstunden mit dem Pianisten Martin Helmchen in Erlangen herumgesprochen, schon fünfmal ist der 39-jährige, aus Ber-lin stammende Pianist in der stets ausverkauften Konzertwerkstatt euphorisch bejubelt worden.

Wie viele Zuschauer das Streaming-Konzert verfolgen, kann Stiehler nur schätzen: "Eine erste schnelle Recherche hat ergeben, dass es rund 180 verkaufte Karten gewesen sein müssten. Damit haben wir deutlich mehr Menschen erreicht, als unter Corona-Bedingungen in den Saal hätten kommen können. Es sind dennoch weniger, als zu normalen Zeiten in dieses Konzert von Martin Helmchen gekommen wären." Aber dafür können mit einer gekauften Karte ja auch beliebig viele Zuschauer das Konzert am Schirm verfolgen. Das Publikum jedenfalls zeigte sich großzügig beim Erwerb der Karten, hat zusätzlich für einen geplanten neuen Konzertflügel, den die Konzertwerkstatt benötigt, gespendet (Artikel folgt).

Martin Helmchen, neuerdings mit Bart, hat am Flügel Platz genom-men. An diesem Abend spielt er ein verkürztes, knapp anderthalb Stun-den dauerndes Konzert mit zwei Bach-Partiten und einer Schubert-Sonate inklusive einer kurzen Zwischenpause.

Geschmeidige Motorik

Vieles ist beim Streaming genauer zu beobachten und vielleicht auch konzentrierter zu hören als live im Konzertsaal. Zu nennen ist die geschmeidige, präzise Motorik, die von Anfang an bei Johann Sebastian Bachs "Partita 5" verblüfft. Vom ersten Ton an ist Helmchen in seiner Musikwelt, die er auch zwischen den Werken nicht verlässt. Das Publikum ist nicht wichtig, sondern nur die Musik. Helmchen ist Präsenz pur. So wird jeder Suitensatz zum singulären Ereignis: Frische Akkuratesse bestimmt die Courante, freien "inéga-len" Gesang entfaltet die reich verzierte Sarabande fern jeglicher französischer rhythmischer Statik. Dem Menuett verpasst der Pianist Wiederholungen in der Oktavierung nach oben und scheint damit Bach’sche Spielereien des Kollegen András Schiff aufzugreifen. Rhetorische Deutlichkeit bestimmt Vorder- und Nachsatz des "Passepied". Die komplexen Strukturen und Stimmführungen der Gigue klingen abrupt in dieser G-Dur-Partita.

Auch die sechste Partita (e-Moll) ist durchdacht, nachvollziehbar und dennoch wunderbar natürlich in den Suitensatz-Charakteren interpretiert. In der bravourösen, exaltierten sechsten e-Moll-Partita scheinen Bach und Helmchen aus der Zeit gefallen: Ist das noch Bach? Das klingt modern wie Busoni oder das kapriziöse Kompositions-Spiel eines Friedrich Gulda. Atemberaubend, exzentrisch, spannend ist das. Ein auftrumpfendes Finale ist dieser Abschluss, der im publikumsfreien Saal und zuhause noch lange in der sprechenden Stille nachklingt.

Die Franz Schubert-Sonate a-Moll, op. 143 (D 784), spielt Helmchen aus-wendig. Im Kopfsatz insistiert er klanglich "winterreisenmüde" auf die rhythmisch und dynamisch geprägte Thematik. Versöhnlich kon-trastiert das im kantabel-milden Seitenthema. Das Andante ist ein Singen zwischen Melancholie und schubert’schem Schwelgen. Beethoven-Attitüde zeigt der Finalsatz, das Allegro vivace. Es ist ein skurriler Wirbel voller Virtuosität und Ausbrüche. Martin Helmchen wirkt nach diesem Kraftakt ergriffen vom geistigen und emotionalen Gehalt dieser Sonate.

Wieder einmal hat der hochkon-zentrierte Pianist an diesem Abend das von ihm erklärte künstlerische Ziel erreicht: "Es geht um etwas, was einem selbst übergeordnet ist. Dies zu vermitteln, ist für mich das höchste Ziel von Musik."

Keine Kommentare