Zwei ungleiche Freundinnen in Erlangen

25.12.2018, 06:00 Uhr
Zwei ungleiche Freundinnen in Erlangen

© Harald Sippel

Gleich vorneweg: Um diese Geschichte zu schreiben, haben wir uns auf die Suche gemacht. Auf die Suche nach dem Geist der Weihnacht, um es angelehnt an Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte "A Christmas Carol" zu sagen. In der Geschichte geht es um einen Geizhals, dem am Weihnachtsabend mehrere Geister erscheinen und letztlich vor Augen führen, dass es jenseits von Materiellem und Besitzstreben noch etwas ganz anderes gibt: Mitgefühl, Güte und Nächstenliebe — das klingt vielleicht pathetisch, trifft aber doch genau das, was Weihnachten ausmacht.

Der Geist der Weihnacht also — wir haben ihn gefunden. Oder so etwas ähnliches. In Uttenreuth, in einem Wohnblock. Bei Waltraut Scholz, die sich im vergangenen Frühjahr dazu entschlossen hatte, bei dem städtischen Projekt "Wohnen für Hilfe" mitzumachen. Die Seniorin war zu dem Schluss gekommen, dass sie aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht mehr länger allein in ihrer Wohnung leben wollte. Da die Nerven in ihren Füßen geschädigt sind, kann sie nicht mehr frei stehen und laufen.

Eine Bekannte hatte ihr von dem Erlanger Projekt erzählt, bei dem unter Federführung der städtischen Abteilung Wohnungswesen in Kooperation mit dem Studentenwerk Erlangen-Nürnberg und der Universität Wohnraumanbieter und Wohnungssuchende miteinander in Kontakt gebracht werden: In der Regel ältere Menschen stellen einem Studenten oder einer Studentin ein Zimmer zur Verfügung, die dafür keine Miete bezahlen, sondern stattdessen im Alltag Unterstützung anbieten.

Im Mai, bei einem Stammtisch von "Wohnen für Hilfe", begegneten sich Waltraut Scholz und Razie Mohammadhosseini zum ersten Mal. "Da saßen wir uns gegenüber und schon war’s geschehen um uns", erinnert sich die 84-Jährige. Gleich beim allerersten Treffen begannen sie und die 32-jährige Iranerin einen Dialog, der bis heute anhält. Die alte und die junge Frau verstanden sich, ungeachtet aller Unterschiede — was Alter, Kultur, Herkunft betrifft — auf Anhieb hervorragend. Und auch die Töchter von Waltraut Scholz und deren Familien schlossen die 32-Jährige sofort ins Herz.

Razie Mohammadhosseini, die in Teheran ihren Master im Fach Malerei gemacht hatte, kam im März nach Erlangen, um Kunstgeschichte zu studieren. Sie möchte promovieren, zuerst aber einmal muss sie an der Universität einen Deutschtest machen. Auch um die Sprache besser zu lernen, wollte sie gern Anschluss an eine deutsche Familie finden. Dann traf sie Waltraut Scholz, im Oktober ist sie zu ihr gezogen und hat dort nun ihr eigenes Zimmer. Doch noch während sie im Studentenwohnheim lebte, kam sie bereits oft zu Besuch nach Uttenreuth.

Waltraut Scholz ist für sie längst ihre "Oma". Razie Mohammadhosseini ist der Frau, die früher als Erzieherin arbeitete und heute noch sagt, dass sie gern mit jungen Leuten zu tun hat, sehr dankbar für deren Unterstützung beim Deutschlernen. "Oma hat mir viel geholfen", sagt sie. Sie spricht langsam, setzt behutsam ihre Sätze zusammen — man merkt, dass es ihr wichtig ist, alles richtig zu sagen. "Es ist doch so langweilig, hundert Mal die Begriffe zu erklären." An dieser Stelle widerspricht ihr allerdings Waltraut Scholz. "Für mich war das nie langweilig", sagt sie. Und sie lobt die junge Frau dafür, dass sie sehr genau ist und sich alles merkt, was sie ihr erklärt.

Umgekehrt, meint Waltraut Scholz, lernt auch sie von Razie Mohammadhosseini. "Oma hat Whatsapp und E-Mail", sagt sie über sich selbst. "Und sie kann auch einigermaßen damit umgehen." Das habe sie nicht zuletzt der Studentin zu verdanken. Als diese im August ihre Familie in Teheran besuchte, waren sie auf diese Weise ständig in Kontakt — obwohl sie damals noch gar nicht zusammen wohnten.

Langweilig ist es also keiner dieser so ungleichen Freundinnen mit der jeweils anderen. "Oma hat mir Geschichten aus ihrem Leben erzählt", sagt Razie Mohammadhosseini. "Sie hat ihr Leben aufgeschrieben, das finde ich toll."

"Schreiben war schon immer meins", erklärt die Seniorin. "Ich muss alles aufschreiben, was mir durch den Kopf geht." Auch Tagebücher ihrer Enkel hat sie geschrieben und dann Hörbücher daraus gemacht — "das macht wahnsinnig Spaß".

Ebenso wie es ihr Spaß macht, sich mit Kunstwerken zu beschäftigen. Auch das ein Interesse, das sie mit ihrer jungen Mitbewohnerin teilt. Sie bewundert die Studentin für deren Malerei. Die wird Razie Mohammedhosseini nun auch an Weihnachten einsetzen. Sie möchte Waltraut Scholz, deren Töchtern und Familien als Weihnachtsgeschenk einen Gutschein für ein selbstgekochtes persisches Essen geben — und dafür malt sie nun eine Speisekarte mit allen Gerichten. Das Familienessen wird es dann im Januar geben.

Den Heiligabend hat Waltraut Scholz mit ihren Töchtern verbracht und Razie Mohammadhosseini zusammen mit Freunden im Studentenwohnheim. Aber die übrige Zeit trinken sie gemeinsam Tee, essen Weihnachtsplätzchen, plaudern. Sie sind längst beste Freundinnen geworden.

Und was ist, falls Razie Mohammedhosseini zum Promovieren nach Berlin geht?

"Oma kann ich nicht mitnehmen", sagt sie traurig. Und die versichert ihr: "Du kannst an den Wochenenden und in den Ferien immer zu mir nach Uttenreuth kommen. Dein Zimmer wartet hier auf dich."

Die erste Begegnung:

"Schon war’s

geschehen um uns"

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