Erste Hilfe für die Seele: Bayernweiter Krisendienst startet

26.2.2021, 10:44 Uhr
Erste Hilfe für die Seele: Bayernweiter Krisendienst startet

© Sebastian Gollnow/dpa

"Es ist wichtig, rechtzeitig gegenzusteuern und bei Bedarf fachkundige Hilfe anzunehmen", sagte Franz Löffler, Präsident des Bayerischen Bezirketags. Der Freistaat ist dem Spitzenverband zufolge das erste Bundesland, in dem flächendeckend ein solches Angebot an Krisendiensten zur Verfügung steht. Hilfesuchende oder Angehörige können ab dem 1. März rund um die Uhr unter der bayernweit einheitlichen und kostenlosen Rufnummer 0800 655 3000 anrufen.

In Leitstellen beraten und informieren an der anderen Leitung geschulte und erfahrene Fachkräfte. Falls erforderlich, bietet ein Netzwerk aus dem medizinischen und psychosozialen Bereich fachärztliche Hilfe und vermittelt kurzfristig einen Termin in der nächstgelegenen psychiatrischen Ambulanz, einer psychiatrischen Praxis oder einem wohnortnahen Sozialpsychiatrischen Dienst. In dringlichen Fällen fahren mobile Teams vor Ort.

Durch frühe Intervention Schlimmeres verhindern

Die Krisendienste in Bayern seien eine Ergänzung in der psychiatrischen Versorgungslandschaft. "Durch eine frühe Intervention lässt sich oft eine weitere Zuspitzung vermeiden und verhindern, dass aus einer Krise eine längere Krankheit wird", sagte Löffler. Mit dem Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz, das im August 2018 in Kraft getreten ist, wurde die Einführung der flächendeckenden Krisendienste beschlossen.

In Oberbayern und Mittelfranken gibt es Krisendienste bereits seit mehreren Jahren. Beim Krisendienst Psychiatrie Oberbayern (die Region hat über 4,6 Millionen Einwohner) sind im Jahr 2020 knapp 30.000 Anrufe eingegangen. Der Krisendienst Mittelfranken (die Region hat über 1,7 Millionen Einwohner) dokumentierte im Jahr 2020 knapp 14.000 Anrufe.


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Als Leiter des Krisendienstes Mittelfranken weiß Ralf Bohnert um den Schmerz, der Menschen in seelische Notlagen treibt und das Leben unerträglich scheinen lässt. Er weiß um den zunehmenden Strudel an Problemen, der sie einfängt und nicht mehr rauskommen lässt. In eine schwierige Lebenssituation gerät man schnell – durch Trennung, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder einen Todesfall.

Kontaktaufnahme auf Wunsch auch anonym

Der Diplom-Sozialpädagoge gründete 1998 den bayernweit ersten Krisendienst in Nürnberg – eine Art "Erste Hilfe für die Seele". Egal ob psychiatrischer Natur oder temporäre Lebenskrise: Betroffene und Angehörige können unter einer kostenfreien Nummer anrufen, auf Wunsch anonym, oder persönlich in die Dienststelle kommen. Dort sitzen geschulte und erfahrene Fachkräfte, die der Schweigepflicht unterliegen und beraten oder informieren.

"Die Schwelle mit uns in Kontakt zu treten ist niedrig, unbürokratisch und einfach", erklärt Bohnert. Es war ein Sonntagabend vor etwa einem Jahr, als ihn der Anruf eines jungen Mannes erreichte: Der Student fühlte sich erschöpft, antriebsarm, konnte daher seinen Nebenjob nicht mehr ausüben, hatte Angst, seine Wohnung zu verlieren und auf der Straße zu landen, zu den Eltern hatte er keinen Kontakt, von seiner Freundin zog er sich immer mehr zurück.


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Der junge Anrufer schämte sich für seine Antriebslosigkeit, für die Traurigkeit, die ihn blockierte. Dann sagte er einen Satz, der Bohnert in Erinnerung blieb: "Ich habe inzwischen mehr Angst vor meinem Leben als vor dem Tod."

Vertrauen wächst mit jedem Anruf

Am selben Abend führte der damals 27-Jährige drei weitere Telefonate mit Fachkräften und habe von Anruf zu Anruf mehr Vertrauen entwickeln können, erzählt Bohnert. Das Team begleitete den jungen Mann daraufhin langfristig. Nachdem die Beziehung mit der Freundin in die Brüche ging, spitzte sich die Situation zu. Fachleute kamen für Gespräche zum Hausbesuch, redeten mit der Studienberatung über Möglichkeiten zum Pausieren, organisierten einen Platz in einer psychosomatischen Klinik.

Das Beste seien die engmaschigen Kontakte durch die schnell aufeinanderfolgenden Gespräche gewesen, habe der junge Mann rückblickend Bohnert erzählt. "Bei einer Kontaktaufnahme überlegen wir nicht: "Sind wir jetzt dafür zuständig? Ist das unser Bereich?" Menschen, die bei uns anrufen, sind erstmal richtig", sagt Bohnert. Es werde sofort gehandelt und nicht erst in einem Terminkalender geblättert.

Krisen halten sich nicht an Sprechzeiten

Denn für einen Menschen in einer Krise sei nichts schlimmer, als zu hören: "Da sind Sie bei uns nicht richtig. Dafür bin ich nicht zuständig. Da verweise ich Sie weiter." Bohnert weiß: Krisen halten sich an keine Sprechzeiten. Der Krisendienst Mittelfranken bietet auch eine Online-Beratung an und für Menschen über 60 Jahren in schwierigen Lebenslagen ein Zusatzangebot. Hilfe gibt es zudem auf türkisch und russisch.


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Die Stadt Nürnberg habe das Vorhaben von Beginn an unterstützt. Bereits drei Jahre nach der Eröffnung weitete sich der Dienst auf den Bezirk Mittelfranken aus.