Fall Sophia: Mord, um versuchten Totschlag zu verdecken?

20.8.2019, 05:53 Uhr
Fall Sophia: Mord, um versuchten Totschlag zu verdecken?

© Daniel Karmann/dpa

"Er hat Sophia Lösche getötet." Dies erklärte Verteidiger Karsten Schieseck bereits vor Wochen, als vor dem Landgericht Bayreuth das Strafverfahren gegen Fernfahrer Boujemaa L., 42 Jahre, begann. Doch die Frage ist, was sich genau im Führerhaus des Lkw zutrug – und dies zu klären, ist die wichtigste Aufgabe der Schwurgerichtskammer.

Wird Boujemaa L. am Ende wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt? Bei Totschlag liegt der Strafrahmen dagegen zwischen fünf und 15 Jahren.

Der Angeklagte schildert einen Totschlag im Affekt: Am 14. Juni 2018 gegen 16.30 Uhr stieg die Tramperin Sophia an der Raststätte Schkeuditzer Kreuz (Sachsen) in seinen Lkw, nach 20 Uhr will er auf dem Rastplatz Sperbes, nahe Plech, Reifen und Radmuttern überprüft haben. Und sah dabei angeblich, wie sie in seinen Sachen wühlte. Und weil er die Ratsche gerade noch in der Hand hatte, erschlug er sie im Streit – nachdem sie ihm eine geknallt hatte.

DNA an Bierdose als Indiz

Doch auch Oberstaatsanwältin Sandra Staade hat eine klare Vorstellung davon, was passiert ist – und wenn ihr die Richter folgen, wird das Urteil auf Mord lauten. Staade ist überzeugt, dass der Angeklagte Sophia Lösche am Rasthof Sperbes missbraucht und erst später ermordet hat. Nur ein Indiz: Die Ermittler fanden eine Bierdose mit der DNA der 28-jährigen Studentin, die erst nach dem Stopp in Sperbes gekauft worden sein kann.

Zu töten, um eine andere Straftat zu vertuschen, ist ein Mordmerkmal – es ist das einzige, das in der Anklage genannt wird.

Schwierige Spurenlage

Die Anklägerin verweist auf L.s Handy: Der Fernfahrer hatte immer wieder fremde Frauen an Raststätten fotografiert. Und im Speicher des Telefons findet sich auch ein Video, das zeigt, wie er sich selbst befriedigt hat. Boujemaa L. war sexuell erregt, dieses Video hat er aufgezeichnet, kurz bevor Sophia Lösche bei ihm einstieg, meint die Staatsanwältin.


Plakat mit Sophia L. bei rechter Demo: Familie wehrt sich


Doch die Spurenlage ist schwierig: Der Erlanger Rechtsmediziner Stephan Seidl beschreibt den fortgeschrittenen Verwesungszustand von Sophias Leichnam. Ihr Körper war am 21. Juni 2018 in einem Gebüsch nahe einer Tankstelle in Vitoria-Gasteinz im spanischen Baskenland gefunden worden – Boujemaa L. hatte die tote Frau teilweise mit Benzin übergossen und angezündet. In ihrem Leichnam wurde kein Sperma gefunden, medizinisch nachweisbar ist eine Vergewaltigung nicht. Stützt dies die Aussage des Angeklagten?

"Ungewollt und übrig"

Was denkt und fühlt Boujemaa L.? Um dies herauszufinden, haben ihn Psychologin Andrea Leonhardt und Psychiater Thomas Wenske jeweils zwei Tage in der Untersuchungshaft besucht und befragt.

L. wuchs in Marokko in ärmlichen Verhältnissen bei seinen Großeltern mütterlicherseits auf, jede Nacht musste er zusehen, zu wem er ins Bett kriechen konnte, ein eigenes hatte er nicht. Nach sechs Jahren verließ er die Schule, und da selbst das Geld für ein paar Stifte fehlte, blieb auch kaum Lernstoff hängen. Die Psychologin spricht von "geringer Bildungserfahrung", doch was Recht und Unrecht sei, könne er unterscheiden. L.s Intelligenzquotient liegt bei 81 Punkten, dies entspricht dem Niveau eines lernbehinderten Menschen.

"Ungewollt und übrig", sagt Wenske, muss sich L. gefühlt haben, als er erfuhr, dass sich seine Mutter als seine Schwester ausgab. Später gründete sie mit einem anderen Mann eine Familie und wollte von ihrem Sohn Boujemaa nichts wissen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Die Aufgabe der Gutachter ist nicht, Straftaten zu verharmlosen. Sie blicken L. hinter die Stirn, auch um zu klären, ob seine Fähigkeit, sich zu steuern, eingeschränkt ist. Sie ist es nicht, L. ist voll schuldfähig. Klar wird auch: Die Gewalt, die er erfahren hat, gibt er weiter. Er ist misstrauisch, und wird er gereizt oder gekränkt, wird er aggressiv.

Keine Tat im Affekt

Im Prozess erwähnte er wie nebenbei, dass er seine Ehefrau in Marokko einmal mit einem Messer in der Herzgegend verletzte, bei anderer Gelegenheit mit einem gefüllten Essensteller nach ihr schlug. Als Fernfahrer für die Strecke nach Europa hat er es als einfacher Mann weit gebracht, so seine Selbstwahrnehmung. Die Frau und die vier Kinder zu Hause müssen ihm dankbar sein.

Musste ihm auch Tramperin Sophia Lösche dankbar sein, sich mit einer schnellen Nummer revanchieren? Als der Vorsitzende Richter Bernhard Heim den Angeklagten mit dieser Frage provozierte, geriet L. in Rage. Unmöglich. Eine unbekannte Frau. Er habe viel zu viel Angst vor Geschlechtskrankheiten, behauptete er. Würde zu dieser Sorge – seine Gesundheit war ein großes Thema im Gespräch mit den Gutachtern – eine Vergewaltigung mit Kondom passen?

Mord, um versuchten Totschlag zu verdecken?

Psychiater Wenske hält die Behauptung des Totschlags im Affekt ohnehin für unglaubwürdig. Selbst wenn L. in eine Ausnahmesituation geriet, und er Sophia Lösche hocherregt im Streit die Ratsche über den Kopf zog – wie erklärt L. dann die Fortsetzung der Geschichte?

L. behauptet selbst, dass er die Fahrerkabine verließ, ein WC aufsuchte und eine Zigarette rauchte, um sich zu beruhigen. Als er später zurückkehrte, habe die junge Frau einen Arm nach ihm ausgestreckt. L. sagt, dass er erneut zuschlug. Aus Sicht des Psychiaters schließt allein dieser zweite Anlauf eine Tat im Affekt aus, Wenske spricht von einem weiteren Tötungsdelikt.

Ein Mord, um einen versuchten Totschlag zu verdecken? Auszuschließen ist dies nicht. Am 10. September wird plädiert.

Der Fall Sophia - eine Chronologie der Ereignisse:

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