Fall Sophia: "Polizei hat die Lage falsch eingeschätzt"

10.7.2018, 15:06 Uhr
Im spanischen Baskenland wurde die Leiche von Sophia L. an einer Raststätte entdeckt.

© Jesus Andrade/El Correo/dpa Im spanischen Baskenland wurde die Leiche von Sophia L. an einer Raststätte entdeckt.

Das Leid, die Zweifel, der Frust, den die Familie von Sophia L. erlebte, lässt sich nur erahnen. Elf Tage vergingen, ehe sie endgültig Gewissheit hatten, Gewissheit, dass die junge Frau tot ist. Sie wurde Opfer eines Gewaltverbrechens, darauf deutet nach wie vor alles hin. "Wir wussten es bereits sehr schnell", sagt der Bruder, Andreas L. Früher als die Polizei - und genau deshalb macht er den Behörden jetzt Vorwürfe. 

Im Fokus steht die Leipziger Polizei. "Es hat viel zu lange gedauert", sagt Andreas L. - und meint damit den Beginn der Suchaktion. An einer Raststätte in Sachsen verlor sich am frühen Abend des 14. Juni die Spur der jungen Frau. Sie stieg in einen Laster, wollte in ihre Heimat Amberg trampen, dort ihre Eltern besuchen. In der Oberpfalz kam Sophia L. aber nie an. Einer Freundin hatte sie in einer Nachricht geschrieben, dass sie in einem marokkanischen Laster sitze. Es ist das Fahrzeug des Mannes, der sie wohl getötet hat. Sophia L. hatte ein konkretes Ziel, kein Motiv durchzubrennen, sagt die Familie. "Es war glasklar, dass hier ein Gewaltverbrechen vorliegt." Doch es passierte: nichts. Vier für die Familie endlos lange Tage. 

"Wir mussten die Polizei beknien, Videomaterial zu sichten"

Bereits relativ früh kannte die Polizei die Spedition, den Fahrer, das Kennzeichen, sagt Andreas L. Er selbst habe all diese Informationen an die Behörden weitergegeben. In seiner Verzweiflung stellte er selbst eine mehrköpfige Ermittlertruppe auf die Beine. "Zwei aus unserem Team und ein Arabisch sprechender Freund haben einfach bei der Spedition in Marokko angerufen", sagt er. Am späten Montagmittag sei das gewesen. "Aber eine groß angelegte Fahndung der Polizei? Nein, Fehlanzeige." Die Behörden in Sachsen und Bayern hätten damals noch die Zuständigkeiten geregelt - fast drei Tage nach Sophias Verschwinden. Er spricht von einem regelrechten Gerangel um Kompetenzen. 

Es ist eine lange Kette von Fehlern der Polizei, so skizziert es Andreas L. "Die Leipziger aus unserem Team mussten die Polizei beknien, endlich das Videomaterial der Raststätte zu sichten, an der meine Schwester verschwand", sagt der Bruder. "40 Stunden nach Sophias Verschwinden hat man sich endlich an die Tankstelle bemüht." 40 Stunden, in denen alles hätte passieren können. 

Zu diesem Zeitpunkt war die 28-Jährige bereits tot, davon gehen die Ermittler aus. Wahrscheinlich wurde sie in Oberfranken an der Rastanlage Sperbes getötet, wenige Stunden, nachdem sie in den Laster des marokkanischen Fernfahrers stieg. "Wir wissen, dass wir Sophia nicht hätten retten können, aber beim nächsten Fall mag das anders sein", sagt L. "Wir möchten einfach, dass der Fall grundlegend aufgearbeitet wird."

Polizei kennt die Kritik - hält sich aber zurück

Die Leipziger Polizei hat die Vorwürfe der Familie zu Kenntnis genommen, sagt Sprecher Andreas Loepki. Man werde aber aus zwei Gründen dazu keine Stellung beziehen. "Zum Ersten haben wir weiterhin tiefstes Verständnis für die emotionale Ausnahmesituation, welcher Familie sowie Freunde von Sophia L. ausgesetzt sind und halten daher auch nüchterne und sachliche Erwiderungen über Medienvertreter für nicht zielführend." Außerdem habe den Fall bereits die Staatsanwaltschaft Bayreuth sowie die Polizei in Oberfranken übernommen. "Dort liegt die Zuständigkeit." 

Der Kriminologe Christian Pfeiffer relativiert die scharfe Kritik der Familie. Die Polizei hätte den Tatverdächtigen auch ohne die Unterstützung des Bruders entdeckt, sagt der Professor, der am Kriminologischen Forschungsinstitut in Hannover lehrt - wenn auch "mit zeitlicher Verzögerung von wenigen Tagen." Das spiele allerdings bei den Ermittlungen eine untergeordnete Rolle. "Hätte das Opfer überlebt, falls die Polizei schneller reagiert hätte? Antwort: Nein, Frau L. war bereits tot, als der Bruder mit seinen Ermittlungen begann."

Kriminologe: "Beamte haben Lage grundlegend falsch einschätzt"

Doch der Fall wirft Fragen auf. Warum etwa vergingen 40 Stunden, ehe die Polizei Material der Raststätte in Schkeuditz sichtete? "Bei Erwachsenen kann dies durchaus einige Tage dauern, bis die Fahndung eingeleitet wird, sofern kein weiterer Hinweis, etwa auf eine Straftat, vorliegt", sagt der Kriminologe Thomas Feltes von der Ruhr Universität in Bochum. "Genau dies war aber hier der Fall, so dass die Polizei sofort mit den Ermittlungen hätte beginnen müssen, nachdem ihr das Bild mit dem Lkw vorgelegt worden war – aber auch erst dann." In den Augen des Professors habe es sich nie wirklich um einen Vermisstenfall gehandelt, denn von Anfang an lag der Verdacht einer Straftat vor - "und dann muss man sofort tätig werden", sagt Feltes. Wann die Polizei mit den Ermittlungen begann, ist unklar. Bislang wollen sich die Behörden dazu nicht äußern. Auch deshalb stehen die Vorwürfe der Familie im Raum, unerwidert. An die Öffentlichkeit ging das Präsidium am Montag nach ihrem Verschwinden - da fehlte bereits vier Tage jede Spur von der jungen Studentin. 

Kriminologe Thomas Feltes über die Vorgehensweise bei Vermisstenfahndungen: "Die Polizei leitet eine Vermissten-Fahndung ein, wenn eine Person ihren gewohnten Lebenskreis verlassen hat, ihr derzeitiger Aufenthalt unbekannt ist und eine Gefahr für Leib oder Leben (zum Beispiel Opfer einer Straftat, Unfall, Hilflosigkeit, Selbsttötungsabsicht) angenommen werden kann. Wird eine Person in Deutschland als vermisst gemeldet, erfolgt die Sachbearbeitung durch die örtlich zuständige Polizeidienststelle (das ist diejenige am Wohnort der vermissten Person, hier also Leipzig). Die Leipziger Polizei hätte also die Polizei in Amberg bitten müssen, zu klären, ob Sophia bei den Eltern dort angekommen ist oder on die Angehörigen weitere Hinweise haben. Ergeben sich Hinweise, dass sich die Person im Ausland aufhalten könnte, soll ein Ersuchen um Mitfahndung über das Bundeskriminalamt an die Interpol-Dienststellen dieser Länder gerichtet werden. Im Prinzip aber gilt: Dort, wo die vermisste Person zuletzt lebte, müssen die Fäden zusammenlaufen, daher dort (und von dort aus) muss ermittelt werden."

Wurden die Ermittlungen im Fall Sophia L. verschleppt? "Ich mag das Wort nicht, weil es nach vorsätzlichem Handeln klingt", sagt der Kriminologe Thomas Feltes. "Im vorliegenden Fall haben die Beamten, bei denen die erste Vermisstenmeldung einging, die Lage grundlegend falsch eingeschätzt." Jetzt sei es an der Polizeiführung, die Vorgänge aufzuklären, sich deutlich offensiver zu zeigen, sagt der Experte. "Ein 'Abtauchen' wie im vorliegenden Fall oder gar ein Hin- und Herschieben von Zuständigkeit ist absolut unprofessionell und sollte dienstrechtliche Konsequenzen haben." 

All das ist für die Familie um den Bruder Andreas L. belastend, sorgt für Unverständnis. "In Leipzig ist das bis heute eigentlich unverschämt, wie man dort mit Angehörigen und Freunden von Sophia umgeht", sagt er. "Nach all dem Nichtstun, das frustriert."

Eben jene fehlende Empathie von Behörden kritisieren auch Opferverbände, etwa der Weiße Ring. Eine Studie aus dem vergangenen Jahr offenbart: 52 Prozent aller Angehörigen fühlen sich während eines Ermittlungsverfahren nicht gut genug über den Verfahrensstand informiert. Gut ein Drittel der Befragten empfanden die Ermittler als "unfreundlich", ebenso viele die Vernehmungen als zu lang und belastend. "Die Ergebnisse zeigen deutlich, wie sehr ein Ermittlungsverfahren ein Opfer noch zusätzlich zur Tat an sich belasten kann", sagte Jörg Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA) und stellvertretender Vorsitzender beim Weißen Ring mit Blick auf die Studie. 

Mehrfachbefragungen der engsten Angehörigen etwa seien ein Problem, aber auch, dass die Polizei zu selten Opferschutzbeauftrage und Therapeuten hinzuziehe. "Die Ermittler sind umso mehr in der Pflicht, mit aller Behutsamkeit vorzugehen und frühzeitig zu erkennen, wie weitere Belastung für ohnehin schon traumatisierte Menschen vermieden werden kann", sagt BKA-Präsident Ziercke. 

All das hofft auch Andreas L. "Wenn etwas Gutes bleiben kann, dann vielleicht die Hoffnung, dass die Polizei zukünftig mehr Empathie entwickelt", sagt der Bruder von Sophia L.

Der Fall Sophia L. - eine Chronologie der Ereignisse:

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