Ferien mit Ferkel im Laster

13.7.2020, 14:01 Uhr
Unser Autor Hans-Peter Kastenhuber und sein Vater lebten vom Handel mit Ferkeln. 

© Archiv/NN Unser Autor Hans-Peter Kastenhuber und sein Vater lebten vom Handel mit Ferkeln. 

Keine Ahnung, mit welcher Floskel man sich in meiner Jugend am letzten Schultag von den Klassenkameraden verabschiedet hat. Die Frage „Und, wo fahrt ihr hin?“ war es bestimmt nicht. Weil man sich nämlich in meiner fränkischen Kleinstadt in den 60er Jahren unter seinesgleichen mit so einem Spruch folgenreich als Schnösel geoutet hätte. Die große Mehrheit fuhr damals in den großen Ferien nirgendwo hin. Ein Sommer zu Hause war völlig normal. Auch ohne Virus-Pandemie.

Auf die nicht gestellte Frage „Wo fahrt ihr hin?“ hätte es bei mir trotzdem eine ziemlich ausführliche Antwort geben können: Geisenfeld, Niederstetten, Landshut, Pfaffenhofen, Kirchberg an der Jagst, Nördlingen. Genau wie heute hätte sich auch damals keiner einen Reim auf die Aufzählung dieser bayerischen und baden-württembergischen Städtenamen machen können. Weil man nicht wissen musste, was die aufgezählten Orte verband: ein wöchentlicher Ferkelmarkt. Mein Vater, der mit jungen Schweinen handelte, steuerte diese Märkte mit seinem Ferkel-Lkw täglich an. In den Sommerferien war ich sein Beifahrer.

Frühaufstehen trotz großer Ferien

Der größte Nachteil an diesem innerfamiliären Ferienjob: Der Tag begann viel zu früh. Irgendwann zwischen 4 Uhr und 4:30 Uhr klingelte der Wecker. Schweigend und ohne großen Appetit saßen mein Vater und ich kurz darauf am Küchentisch und würgten ein in den Kaffee beziehungsweise den Kakao getunktes, altbackenes Brötchen runter. Kurz danach, draußen war es noch dunkel, starteten wir mit dem Lkw.

Meine wichtigste Aufgabe bei der Fahrt in den allmählichen Sonnenaufgang war es, meinen müden Vater wachzuhalten. Also unterhielten wir uns eifrig. Das heißt: Ich stellte Fragen, und mein Vater bemühte sich um Antworten. Es mag tatsächlich Menschen geben, die im Rückblick auf ihr Leben die Schule als wichtigsten Lernort bezeichnen würden. Bei mir war es das karge Führerhaus eines Lastwagens, bei dem der Gestank des Dieselantriebs leider nie den der transportierten Ferkel überdecken konnte.


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Die Unterhaltungen auf den langen Überlandfahrten waren im Grunde nichts weniger als ein außeruniversitäres Studium generale. Wenn ich meinen Vater, der in unserem Städtchen Mitglied des Stadtrats war, fragte, worum es denn in der Sitzung am Vorabend gegangen sei, erhielt ich eine altersgemäße und praxisnahe Einführung in Kommunalpolitik, die auch grundsätzliche Fragen wie etwa die Gefahren der Dominanz einer einzelnen politischen Partei, die auch damals schon CSU hieß, nicht aussparte.

Irgendwo zwischen Feuchtwangen und Crailsheim wurde mir auf unserem Weg nach Niederstetten dann vielleicht noch das Prinzip des d’Hondtschen Verfahrens erklärt,mit dem bei Wahlen die Sitze eines Stadtratsgremiums auf die verschiedenen Listen verteilt werden. Mein etwas zahlenverrückter Vater, der vermutlich der einzige Ferkelhändler weit und breit war, der seinerzeit die Übernahme des väterlichen Geschäfts mit dem Abbruch eines Mathe- und Physikstudiums bezahlt hatte, brachte mir d’Hondt so anschaulich nahe, dass ich das Divisorverfahren bis heute nicht vergessen habe. Und natürlich versäumte er nicht, nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass das mathematisch durchaus elegante Verteilungsmodell leider wieder die größte Partei bevorzugte. Und welche das war, wusste ich ja schon.

Vielleicht beschäftigten uns bei der Fahrt zum seinerzeit größten deutschen Ferkelmarkt in Hohenlohe aber auch Sportthemen oder die Frage, warum in diesem noch fränkischen Teil des nördlichen Baden-Württembergs die Qualität der Wurstwaren im Vergleich zu unserer in dieser Hinsicht wahrlich gesegneten Heimatregion so arg zu wünschen übrig ließ. Dann könnte es sein, dass ich bei dieser Gelegenheit die gravierenden Unterschiede zwischen einem besser zu meidenden Schwartenmagen und einem Presssack erläutert bekam. Eine Lehre, die mir auch in späteren, vom Glauben an politischen Internationalismus geprägten Zeiten einen gewissen Ernährungs-Patriotismus nie verlieren ließ.

Nach dem Eintreffen am Marktort blieb dann erst mal keine Zeit für Unterhaltung. Punkt 7 Uhr wurde der Handel eröffnet. Ich hetzte meinem Vater im Zickzack über den von Ferkelkisten übersäten Marktplatz hinterher, erlebte, wie er sich die prächtigsten Würfe sicherte, kurz mit den Bauern um den Preis feilschte, das Ganze mit einem Handschlag besiegelte, die gestriegelten, rosigen Tiere mit einem dicken Wachsfarbstift markierte und dann zum nächsten Wurf eilte. Nach einer halben Stunde war alles vorbei. Der Einkauf war erfolgreich, wenn die jetzt eingesammelten und nachträglich bezahlten Ferkel, den Lkw möglichst komplett füllten. „Bua, do musst schnell sei!“, hieß die vergleichsweise simple Lehre des frühen Morgens.

Mit vollbeladenem Ferkellaster machte wir uns dann auf die Heimreise. Irgendwo auf dem Weg, möglichst hinter der Landesgrenze (siehe oben), gab es eine Brotzeit und danach einen Schluck Kaffee aus der mitgeführten Thermoskanne. Dann ging es „ins Gäu“. Sprich: In unserem Heimatlandkreis steuerte mein Vater in verschiedensten Ortschaften Bauernhöfe an, die unter anderem Schweinemast betrieben. Manche hatten in den Tagen zuvor abends bei ihm angerufen und Ferkelnachschub bestellt, von anderen ahnte er nur, dass sie wieder Platz im Stall hatten.

Dieser sich oft bis weit in den Nachmittag hinein ziehende Teil des Geschäfts war der für mich jetzt auch materiell interessante. Wenn sich die Bauern mit meinem Vater handelseinig wurden, zählte es quasi zu den Pflichtübungen der Prozedur, den erwartungsvoll dem Verkaufsritual beiwohnenden Beifahrer mit einem Trinkgeld auszustatten. 50 Pfennig, wenn’s alte Knauserer, eine oder gar zwei Mark, wenn es großzügige Bauern waren.

Ferkel werden zur Konfessionsfrage

In Führerhausgesprächen über Religionsfragen hatte ich von meinem Vater früh gelernt, dass in katholischen Ortschaften das Trinkgeld in der Regel Glücksgeld hieß und man seine Aushändigung nicht mit einem freundlichen Dankeschön, sondern mit einem lauen „Vergelt’s Gott!“ zu quittieren hatte.

Es war dies allerdings der seltene Ausnahmefall, denn der Ferkelhandel in Mittelfranken, den es heute in dieser Form nicht mehr gibt, war Mitte des vorigen Jahrhunderts mehr oder weniger streng konfessionell organisiert. Protestantische Bauern kauften bei protestantischen Händlern wie meinem Vater, und Katholiken bei Katholiken. Die konfessionelle Abstammung der Tiere spielte keine Rolle.

Wenn wir am späten Nachmittag mit möglichst leerem Lkw zu Hause ankamen, hatte ich meine Heimat wieder ein bisschen besser kennengelernt, kannte den Unterschied zwischen Gundelsheim und Gundelshalm, wusste, dass Höfen eigentlich Hagsbronn hieß, und dass es dort eine legendäre Gänse-Kirchweih gab.

Wenn mein Vater einen guten Tag gehabt hatte, war mir auch noch eine kleine, nicht ganz legale Fahrstunde vergönnt gewesen. Auf irgendeiner unbefahrenen Dorfverbindungsstraße stoppte er nämlich gelegentlich unvermittelt, setzte mir zur Tarnung seinen Sauhändlerhut auf und ließ mich für ein paar Kilometer ans Lkw-Steuer.

Am Ende solcher langen Tage war ich hundemüde, aber glücklich. Mein Vater musste am nächsten Tag um vier wieder raus. Ich durfte pausieren, einen Teil meiner Trinkgeldeinnahmen im Freibad auf den Kopf hauen und am übernächsten Tag auf der Fahrt Richtung Pfaffenhofen oder Landshut wieder dabei sein.

Und wenn am Ferienende ein Klassenkamerad dann doch mal „Warst du weg?“ fragte, antwortete ich: „Nö.“ Weil es viel zu kompliziert gewesen wäre, die ganze großartige Wahrheit zu erzählen.

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