Forchheim: Mit Carola Rackete auf der Sea-Watch 3

18.11.2019, 16:04 Uhr
Forchheim: Mit Carola Rackete auf der Sea-Watch 3

© Foto: Federico Scoppa/AFP

"Warum?" Diese Frage stellte sich Lorenz Schramm bei seinen bisher fünf Seerettungstouren auf dem Mittelmeer oft. "Warum müssen Menschen unter solchen Bedingungen leben?"

Einmal nahm er eine Frau mit Baby in Empfang. Drei Stunden zuvor war das Kind auf einem winzigen, kaum seetüchtigen Boot irgendwo auf dem Mittelmeer geboren worden – eingepfercht zwischen Dutzenden fremden Menschen, ohne ärztlichen Beistand, in miserablen hygienischen Verhältnissen.

Der 29-jährige Politaktivist und Krankenpfleger, der in Freiburg lebt, ist in Deutschland auf Vortragsreise unterwegs. Der Kreisverband von Bündnis 90/Die Grünen, das Netzwerk Asyl und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hatten ihn eingeladen, in seiner Heimatstadt von seinen Einsätzen zu berichten.

Sea-Watch rettete 3000 Menschen

Forchheim: Mit Carola Rackete auf der Sea-Watch 3

© Foto: Philipp Demling

Die Sea-Watch 3 wurde früher zur Unterstützung von Ölplattformen eingesetzt. Jetzt nutzt der Verein Sea-Watch sie als Rettungsschiff, das bis zu 600 Flüchtlinge aufnehmen und in europäische Häfen bringen kann. Nach Angaben des Vereins war die Sea-Watch 3 seit November 2017 an der Rettung von etwa 3000 Menschen beteiligt. Wer Schramm im Pfarrsaal der Gemeinde St. Anna zuhört, gewinnt den Eindruck, dass den Forchheimer nichts mehr schockiert. Mit ruhiger Stimme spricht er über die Grausamkeiten, von denen ihm die Bootsflüchtlinge erzählt haben.

"Libyen ist die Hölle" – diesen Satz hörte er hundert-, wenn nicht gar tausendfach. "Rassismus gegen Schwarze ist dort sehr verbreitet", sagt Lorenz Schramm. Vor zwei Jahren veröffentlichte der US-Nachrichtensender CNN ein Video, in dem zu sehen ist, wie in Libyen afrikanische Migranten für 300 Dollar verkauft werden. Das Auswärtige Amt spricht von "KZ-ähnlichen Verhältnissen" in libyschen Flüchtlingslagern.

Trotzdem, kritisiert Schramm, behaupteten gerade rechte Politiker immer noch, Libyen sei ein Land, in das man die Bootsflüchtlinge bedenkenlos zurückschicken könne. "Es gibt keine völkerrechtliche Legitimation, sie nach Libyen zurückzuschicken", bekräftigt der Aktivist. "Man darf Menschen nicht an einen Ort zurückschicken, wo ihnen Verfolgung droht."

Viele der Geflüchteten stammten aus Kamerun, wo seit fünf Jahren Bürgerkrieg herrsche – oder aus Nigeria, in dessen Norden die islamistische Terrorgruppe Boko Haram herrsche. "Die Leute haben verdammt gute Gründe zu flüchten", ist Lorenz Schramm überzeugt. Immer wieder griffen Handelsschiffe Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer auf und brächten sie zurück nach Nordafrika. Häufig geriet Sea-Watch auch in Konflikte mit der "sogenannten libyschen Küstenwache", wie Schramm sie nennt. "Sie ist mehrfach auf unser Schiff geklettert und hat die Herausgabe der Flüchtlinge gefordert", erzählt der 29-Jährige. Mit ihr Kontakt aufzunehmen sei schwierig bis unmöglich: "Wenn wir dort anrufen, geht niemand ans Telefon. E-Mails werden nicht beantwortet."

Schramm bezeichnet die libysche Küstenwache als "Miliz, die von der EU ausgebildet und bezahlt wird". Sie habe nur die Aufgabe, die Festung Europa zu stärken, betont Schramm.

Ihre Rettungspraxis sei "miserabel". Viele Insassen der Sea-Watch 3 sprängen lieber ins Wasser, als von der Küstenwache zurück nach Libyen gebracht zu werden.

Trockenübungen der Retter

Um sich auf Notfälle wie feindliche Übernahmen, Kentern oder Brände vorzubereiten, erzählt Schramm, treffen sich die aktiven Mitglieder von Sea-Watch zu "Trockenübungen". Lorenz Schramm empfängt bei den Rettungsmissionen die Bootsflüchtlinge meistens. Er nennt sie "unsere Gäste". Es gibt zahlreiche Spiele an Bord. Die Mahlzeiten bestehen aus Reis, Couscous, Bohnen und Linsen, haltbare Lebensmittel, die leicht zuzubereiten sind.

Schramms bisher letzter Einsatz auf der Sea-Watch 3 war zugleich der gefährlichste: die Irrfahrt im Juni 2019 unter Kapitänin Carola Rackete, als das Rettungsschiff zwei Wochen lang an keinem europäischen Hafen anlegen durfte. Aus Erfahrung weiß Schramm: "Jede extreme Stimmung an Bord ist gefährlich. Wenn die Stimmung zu gut ist, versuche ich sie zu dämpfen, weil sie sonst schnell in Frust umschlagen kann." Er berichtet von Einschüchterungsversuchen der italienischen Behörden, die der Sea- Watch-Crew Millionenstrafen angedroht hatten, falls sie die Migranten illegal ins Land bringen würden.

Gleichzeitig mussten sich die Flüchtlingshelfer um dutzende traumatisierte, erschöpfte Menschen kümmern. Schlimm war es auch, als zunächst nur Frauen, Kinder und Kranke an Land durften. "Dann mussten wir entscheiden, wer krank genug ist, um das Schiff verlassen zu dürfen", berichtet Lorenz Schramm. "Und die anderen fragen uns dann: Sind wir Menschen zweiter Klasse? Wie krank müssen wir werden, dass wir nach Europa dürfen?"

Nach zwei Wochen durften endlich alle Flüchtlinge in Lampedusa an Land gehen, die zunächst festgenommene Carola Rackete wurde freigelassen. Trotzdem klagt Lorenz Schramm die Regierungen der EU-Staaten an: "Alle gucken weg."

Gleichzeitig lobt er alle, die ehrenamtlich Sprachkurse, Rechtsberatung und andere Hilfe für Flüchtlingen leisten: "Das ist mindestens so wichtig wie die Seenotrettung."

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