In der "Fränkischen" daheim: Orchidee des Jahres 2021

2.10.2020, 14:03 Uhr
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© Adolf Riechelmann

Seinen Namen erhielt die Spezies von dem im 17. Jahrhundert in Oxford lebenden Botaniker John Goodyer (1592 bis 1664). Der Artname repens stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „kriechend“. Er bezieht sich auf den im Moos kriechenden Wurzelstock. Einige Orchideen zeichnen sich durch attraktiv gezeichnete, vielfach auffällige und farbnervige Blätter aus, sodass sie umgangssprachlich als „Juwelen-Orchideen“ bezeichnet werden, da sie eher durch prächtiges Blattwerk als durch spektakuläre Blüten glänzen. Das zierliche Kriechende Netzblatt gehört dazu.

Als Kulturfolger etwas besonderes

Nicht wie die meisten Orchideen unserer Region knollenbildend, gedeiht das Kriechende Netzblatt als Staude mit wurmähnlichem, lang gestrecktem, filzigen Wurzelstock. Die Fähigkeit, Ausläufer und damit neue Pflanzen zu bilden, ermöglicht eine vegetative Vermehrung, die für diese Art mindestens ebenso wichtig ist wie die Vermehrung durch Samen. Das Kriechende Netzblatt steht bei uns je nach Witterungsverhältnissen von Ende Juni bis Ende Juli in Blüte. Die nur zirka acht Millimeter großen, weißen bis zart elfenbeinfarbenen Blüten sind fein, aber dicht behaart. Die feine Struktur der Blütenblätter entsteht durch winzige Drüsenhaare auf deren Außenseite. Während der Winterzeit und im Vorfrühling lohnt es sich, nach dem Kriechenden Netzblatt zu suchen, denn die grünen Blattrosetten fallen sofort auf, weil sie sich vom Graubraun der umgebenden, abgestorbenen Vegetation gut abheben.

Gegenüber ihren optisch attraktiveren Verwandten besitzt die kleine Waldorchidee eine Besonderheit, die ihr das Überleben in unserer Kulturlandschaft lange Zeit sicherte: Diese Orchidee gehört nicht zu den „Kulturflüchtern“, wie die Mehrzahl ihrer heimischen Verwandten, sondern zu den „Kulturfolgern“, da sie mit Vorliebe die von Menschenhand mit Nadelwald aufgeforsteten Kalktriften und Hutungen besiedelt. In der Fränkischen Schweiz wächst das Kriechende Netzblatt in mehr oder weniger großen Herden in schattigen bis halbsonnigen vermoosten Forsten der Waldkiefer auf frischen Kalkböden. Überalterte oder grasreiche Nadelholzforste bieten der konkurrenzschwachen Pflanze kaum Lebensraum. Gut besetzte Wuchsorte kann man in der Fränkischen Schweiz im Ailsbachtal, bei Pottenstein sowie auf der Hohen Leite antreffen.

Als Bestäuber der kleinen Blüten konnte sowohl die Erdhummel als auch die Honigbiene nachgewiesen werden. Die Tiere patrouillieren ständig auf Nahrungssuche am Waldrand und werden dabei offensichtlich durch einen für die Nahwirkung wichtigen, artspezifischen Duftstoff angelockt. Nachdem das Kriechende Netzblatt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch weit verbreitete Kiefernaufforstungen zunächst profitierte und im Bestand zunahm, gingen die Vorkommen bereits um die Jahrtausendwende stark zurück, weil viele Kiefernforste sich auf natürliche Weise zu Mischwäldern weiterentwickeln oder weil aufgrund forstlicher Maßnahmen diese Entwicklung gefördert und beschleunigt wurde. Im 21. Jahrhundert kamen dann zunehmend heiße und trockene Sommer als Gefährdungsursache hinzu. An vielen Wuchsorten trocknete das Moos zeitweise aus, wodurch der Orchidee die Lebensgrundlage entzogen wird, da sie oberflächennah in der Moosschicht wurzelt und auf deren Feuchtigkeit angewiesen ist. Aus diesem Grund sind viele größere Bestände bereits stark dezimiert, etliche Kleinvorkommen ganz erloschen. Damit ist das Kriechende Netzblatt in der Fränkischen Schweiz in besonderer Weise ein Verlierer der Klimaentwicklung der letzten Jahre.