600 Nanometer und mehr

24.6.2014, 11:10 Uhr
Feiner Kanzlerin-Beobachter: Ulrich Kulp.

© Draminski Feiner Kanzlerin-Beobachter: Ulrich Kulp.

Sie drehte sich ein wenig ab vom neben ihr schreitenden afrikanischen Staatsgast und versuchte mit den Händen, die vertraute Raute zu formen, etwas tiefer als sonst, fast unterhalb der Hüfte. Es sollte niemand mitbekommen.

Vor allem nicht dieser beeindruckende Präsident aus Sumabwa, dieser schwarze Hüne, der sie irgendwie nervös gemacht hatte. Die spalierstehenden Soldaten, denen sie sich damit auf der anderen Seite zuwandte, mussten ihr in diesem Augenblick egal sein. Auch dass sie mit einem Fuß vom roten Teppich abkam, war ihr egal. Hauptsache, sie fand ihre Fassung wieder nach diesem Kuss, den Makwawa Ulamba ihr am Fuß der Flugzeugtreppe zur Begrüßung auf die Wange gehaucht hatte.

Ihre Fassung hatte sie noch immer verlässlich wiedergefunden, wenn sie nur diese Raute bilden konnte – in der Nähe ihrer Körpermitte, in der im Augenblick irgendwas summte und herum gaukelte. Sie war wie beschwipst.

Ihre Knie wurden weich. Die Raute, schnell jetzt! Sie bekam die Spitzen der Finger zusammen, aber es schien zu spät. Ein süßer Schwindel ließ sie die Kontrolle über ihre Beine verlieren. Sie sah sich schon hineinfallen in die sauber aufgestellte Reihe der Uniformierten, als sich im letzten Augenblick vor der sicheren Katastrophe eine kräftige Hand um ihre misslungene Raute schloss und eine andere den Ellenbogen ihres rechten Armes ergriff und sie behutsam, aber mit entschiedener Kraft auffing und zurück auf den Teppich führte.

Sie sah auf zu ihrem Retter. Die Sonne stand genau hinter dem Haupt von Makwawa Ulamba, der mitten aus diesem strahlend hellen Kreis heraus zu ihr herunter sah, direkt in ihre Augen, der sie anlächelte, als sei überhaupt nichts geschehen, mit einem Blick wie Feuer und Eis. „Nicht mal der kleine Franzose“, dachte sie, „hat mich so durcheinandergebracht, nicht mal der kleine Franzose!“ Und der hatte sie durchaus ein ums andere Mal irritiert.

So gingen sie vier, fünf Schritte den roten Teppich entlang, bis er spürte, dass ihr Tritt wieder sicherer geworden war. Sanft zog er die stützenden Hände zurück, blieb aber weiterhin eng an ihrer Seite. Eigentlich zu eng für einen Staatsempfang, dachte sie. War das einfach nur das Angebot, bei einem weiteren Schwindelanfall eingreifen zu können? War das so was wie Sitte in Sumabwa, dass man näher an Fremde herantrat als in dem Kulturkreis, in dem sie aufgewachsen war und in dem ein Mann eine Frau hatte, zumindest offiziell, und nicht mehrere wie in Sumabwa?

Ihre Mundwinkel verzogen sich aus ihrem gewohnten Areal irgendwo weit unterhalb der Lippenlinie und schnellten nach oben. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie gewahr wurde, wo sie ihre Gedanken hintrugen – so weit weg vom Zeremoniell. Sie ging nicht, sie schwebte und musste fast lachen, als sie sich dabei ertappte, dass ihr im Augenblick der Euro und die Krisen regelrecht schnuppe waren.

Von ihr aus hätte dieser Teppich ausgerollt sein können bis zum Horizont und darüber hinaus. Dieser lange Läufer, der seine Farbe unter ihr zu verändern schien und zu dem kräftigen Rot plötzlich eine Nuance Indigo gab, nur um Sekundenbruchteile später über einen fast pflaumenfarbenen Moment und ein darauf folgendes gar nicht feines, grelles Pink, das eine strenge Zeremonie zu sprengen vermocht hätte, gerade noch rechtzeitig zurückzukehren ins tiefe Rot, das einem Staatsempfang wahrscheinlich doch am besten angemessen war, „wenn das Licht mit einer spektralen Verteilung ins Auge fällt“, formulierte sie still vor sich hin, und schmunzelte und schmunzelte ununterbrochen weiter, „. . . mit einer spektralen Verteilung ins Auge fällt, in der Wellenlängen oberhalb von 600 Nanometer dominieren.“ Sie war nun mal auch Physikerin, Wissenschaftlerin — bei aller Bereitschaft, so etwas wie einer inneren Stimme oder gar nur Stimmung zu folgen, was ihr wahrscheinlich sowieso niemand zutraute. Auch darüber musste sie lächeln. Niemand kannte sie wirklich. Niemand!

Dann sah sie schwarz. Sie waren am Ende des Teppichs angekommen, wo die große, schwarze Limousine stand, die sie nun ins nüchterne Kanzleramt bringen würde.

Der magische Moment war vorbei, und niemand hatte ihn mitbekommen. Wahrscheinlich nicht einmal Makwawa Ulamba, dachte sie, als sich ihre Mundwinkel wieder nach unten verziehen wollten. Das aber ließ sie nicht zu. Gar nicht. Noch Tage später, als sie der Nation mal wieder die Lage erklärte mit dem vermaledeiten Euro und den ganzen Krisen, umspielte ein weit mehr als nur Mut machendes Lächeln ihre Lippen, und die Raute vor ihrer Mitte hatte sich in eine Art Oval verwandelt, war weicher geworden, verspielter und hatte nichts mehr gemein mit der, die ihr die Wachsfigurenmodellierer in der Berliner Dependance von Madame Tussauds so starr vor den Bauch geschnitzt hatten. Gar nichts mehr!

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