Als die Kleeblattstadt sich Richtung Norden fraß

10.7.2012, 22:00 Uhr
Als die Kleeblattstadt sich Richtung Norden fraß

© Winckler (3), Linke

11000 neue Bürger auf einen Schlag. Außerdem 44 Quadratkilometer Landgewinn. Gewissermaßen über Nacht legte die Stadt Fürth beträchtlich zu. Am 1. Juli 1972 trat in Bayern eine neue Gemeindeordnung in Kraft, um größere Verwaltungseinheiten zu schaffen. Nicht jeder Ort, so der Hintergedanke, braucht sein eigenes Rathaus samt Verwaltung.

40 Jahre später haben sich etliche der Neubürger von damals im Hof des Fürther Rathauses versammelt. Die Stadt hat sie zur Feier des Jubiläums eingeladen – und da sitzen sie nun an ihren Tischen, säuberlich getrennt nach Ortschaften: die Sacker, die Stadelner, die Vacher, die Flexdorfer, die Steinacher und noch einige mehr, die einst zum Landkreis Fürth gehörten.

Wie war die Stimmung vor 40 Jahren? „Hitzig“, sagt Ingrid Lamatsch. Die Chefin des Stadelner Trachtenvereins, auch heute in Tracht gekommen, war damals 16 Jahre alt, erinnert sich aber gut, wie sich ihre Eltern und der Rest Stadelns dagegen wehrten, Fürther zu werden. „Die Gemeinde hat geklagt. Bis vor den Verwaltungsgerichtshof“, sagt sie. Die Herren am Tisch nicken bestätigend.

Wohlhabend waren sie, die Stadelner, fügt Karl-Heinz Pflugmann (57) hinzu. Der Vorstand der Freiwilligen Feuerwehr zählt einige Betriebe auf, die üppige Gewerbesteuer zahlten: Dynamit Nobel, die Lampenfabrik Doria oder Leistritz. „Wir waren die reichste Gemeinde Bayerns“, glaubt Ingrid Lamatsch. In einer Befragung mit „fast hundertprozentiger Beteiligung“, so Lamatsch, sprach sich die überwältigende Mehrheit für die Eigenständigkeit aus. Vergeblich. Der Freistaat blieb hart.

„Nach dem Gerichtsurteil kehrte schnell Ruhe ein“, erinnert sich Günter Schrems, der Chef des Stadelner Vereinskartells. In der Folgezeit habe man geschaut, möglichst viele „eigene Leute“ in den Stadtrat zu bringen. Und so ist’s heute noch. „Stadelner wählen Stadelner“, stellt Ingrid Lamatsch klar. Nicht „im Traum“ würde es ihr einfallen, einen Kandidaten aus dem Nachbarort Vach zu wählen. „Na ja“, beschwichtigt Feuerwehrler Pflugmann, „den einen oder anderen kann man scho’ wählen.“

Einige Tische weiter sitzen die besagten Vacher, darunter Gerhard Ritter (65), Schwiegersohn von Konrad Wirth, dem letzten Bürgermeister Vachs. „Wir Jungen waren im guten Glauben, die Eingemeindung verhindern zu können“, sagt er. Sein Schwiegervater hingegen, den Ritter damals zu etlichen Protestversammlungen chauffierte, hatte die Aussichtslosigkeit schnell erkannt. „Das ist chancenlos, weil politisch gewollt“, habe dieser gesagt.

Noch gut hat Ritter eine „aufgeheizte“ Versammlung im Gedächtnis, bei der die Bürgermeister von Stadeln und Sack verkündeten, noch schnell das eine oder andere Bauwerk zu errichten, ehe die Fürther Zugriff auf die Gemeindekasse hatten – Turnhalle und Schwimmbad beispielsweise. Die Vacher verzichteten auf so etwas – „vernünftigerweise“, wie Ritter findet. Und wie fühlt man sich in Vach mit einem Oberbürgermeister, der aus Stadeln stammt? „Ach, das passt schon“, sagt Ritter, „seine Großmutter ist doch aus Vach.“

Plötzlich Nürnberger

Peter Pfann ist waschechter Steinacher und die gehörten – ebenso wie die Herboldshofer – einst zur Gemeinde Boxdorf. Während die Ersteren nach Fürth kamen, wurden Boxdorf und Großgründlach ein Teil von Nürnberg. Die neue Stadtgrenze, sagt der Landwirt, sei entlang der Weiherkette „mitten durch Steinach“ gezogen worden. Teile der Schmalau gingen für Steinach – und somit auch für Fürth – verloren. Land, das die Stadt heute gut gebrauchen könnte, bedauert Pfann, der seit vielen Jahren Stadtrat ist. Immerhin, sagt er, habe man erreicht, dass die Feuerwehr-Kollegen, die plötzlich auf der „anderen Seite“ lebten, weiter Dienst bei der Steinacher Wehr tun durften – schließlich wohnten einige der Neu-Nürnberger nur hundert Meter vom Spritzenhaus entfernt.

Am Sacker Tisch trägt man auf die Frage nach dem Sozialwerk ein breites Grinsen zur Schau. Der letzte Bürgermeister Leonhard Abraham wusste eben, wie man seine Schäfchen ins Trockene bringt. Zwar kamen die Sacker nicht umhin, bei der Eingemeindung 500000 DM Bargeld an die Stadt abzugeben, wie der frühere Gemeinderat Lorenz Eichler erzählt. „Aber die Häuser, die kriegt Fürth nicht“, lautete der allgemeine Tenor.

13 Gebäude mit je sechs Wohnungen – erst kurz zuvor mit Gemeindemitteln und ohne Kreditaufnahme finanziert – überführten die Sacker, ehe jemand einschreiten konnte, in die Stiftung „Sozialwerk Sack-Bislohe–Braunsbach“. Noch heute schüttet sie jährlich über 50000 Euro an örtliche Einrichtungen wie Sportverein, Kindergarten und Grundschule aus. „Abraham war Landwirt, eine gewisse Bauernschläue ist ihm nicht abzusprechen“, sagt Stiftungsvorstand Wolfgang Greul.
Der Freistaat untersagte mögliche Nachahmungstaten übrigens umgehend per Gesetz – zu spät für die cleveren Sacker. „Da sind wir heute noch ein bisschen stolz drauf“, sagt Greul.

Keine Kommentare