Das hypnotische Biotop

28.1.2014, 09:53 Uhr
Das hypnotische Biotop

© Horst Linke

Mit trockenem Knacken geben die Zaundrähte meiner Zange nach. Vermutlich setze ich mich gesundheitlichen Risiken aus, aber wir brauchen Messwerte, wenn wir Verschmutzungen nachweisen wollen. Offiziell ist hier alles stillgelegt und sicher. Ich biege die Drähte auseinander und krieche durch das Loch auf das Gelände. Mein Zielobjekt befindet sich mitten in einem Naturschutzgebiet. Seit dem Frühling hat sich dort die Artenvielfalt an Insekten dramatisch verringert. Auch die Säugetiere, Vögel und Reptilien scheinen einfach zu verschwinden.

Ich laufe über Lichtungen, zwischen Waldstücken hindurch. Ab und zu rauschen die Blätter im sommerwarmen Wind, ich höre meine Schritte auf Laub und Zweigen, sonst herrscht völlige Stille. Kein Vogelgesang, kein Summen. Ich sehe einen Ameisenhaufen. Von weitem wirkt er verlassen, nur die Millionen Holzstückchen, zusammengetragen und verbaut. Näher gekommen erkenne ich doch Ameisen. Sie befinden sich alle auf einer Seite des Baus, bilden kleine Ameisenpyramiden, weisen in die Richtung, in die ich auch gehen muss. Rötlich-schwarz und durchscheinend sehen sie lebendig aus, aber keine Ameise bewegt sich. Sie sind nicht zusammengekrümmt, aber trotzdem tot. Ich nehme einige als Probe mit. Ich entdecke reglose Junikäfer und Feuerwanzen. Gegen die Sonne gehalten, durchdringt sie das Licht. Bald sehe ich überall kristallisierte Käfer, schimmernd wie bunte Kieselsteine. Nachdenklich fahre ich mit den Fingern über meine Bartstoppeln, die jucken, als würden sie plötzlich schneller wachsen.

Am Boden liegt ein Pirol. Ich hebe den Vogel auf. Eine seiner grauen Krallen ist abgebrochen, die Bruchstelle glänzt silbern. Ich schiebe die gelben Federn zurück; auch dieser zerbrechliche Korpus ist kristallisiert. Ich dokumentiere das mit der Kamera. Dabei merke ich, dass meine rechte Hand taub ist. Die Finger lassen sich nur noch schwer bewegen. Ich greife, aber spüre nichts mehr. Das heißt wohl, ich befinde mich in Gefahr und sollte umkehren. Ich denke das und gehe trotzdem weiter, will voran.

Hinter diesen Bäumen muss die Wiesenfläche beginnen. Ich schiebe die Äste beiseite. Da hockt es vor mir, das Kraftwerk, ein gigantischer Organismus, rumorend im Innern. Aus den riesigen bauchigen Betonfingern zum Wärmetausch quillt Dampf. Der aufgestaute Fluss ist zu einem See angeschwollen, der die Betonstrukturen spiegelt, verdoppelt. Das Wasser ist nah am Siedepunkt. Dicke Schläuche führen hinein. Am Fuß des Werks entstehen große Wirbel, wandern zur Seemitte, über der weiße Schwaden aufsteigen. Rhythmisch sprudelt das Wasser, schlägt Wellen, wirft Kristallfische an Land. Ich will das dokumentieren, aber ich muss die Kamera verloren haben.

Hunderte Kristalltiere schichten sich hier, die komplette Bandbreite an Fauna, verdreht, ineinander verkeilt. Ein weißhaariger Mann in Uniform, ohne Hosen, ein Wachmann vielleicht. Eine Frau kniet nackt zwischen Grasbüscheln, ihre Joggingsachen rund um sich verteilt; sie glänzt wie ein Rosenquarz mit violetten, roten und braunen Organeinschlüssen. Ich schaue hinauf zum zentralen Schornstein. Er nimmt an Umfang zu, ragt über die hellblauen Quader der Hauptgebäude hinaus, schält seine Steinhaut wie eine Platane. Meine Knie sind schwergängig, aber ich mache Schritt für Schritt vorwärts, als würden sich Sehnen vom Kraftwerk bis zu meinen Gliedmaßen spannen, mich ziehen.

Aus den Betonbäuchen sprießen graue Knospen, groß wie Tanks für Flüssiggas. Rohrleitungen und Schienen arbeiten sich in den Wald vor. Kabelbündel öffnen sich zu korallenartigen Gewächsen, bewegen sich wie in einer Strömung, streichen über die glitzernden Körperhaufen. Der Anblick erregt mich. Ich höre einen anhaltenden, hohen Ton, der vielleicht schon die ganze Zeit da war. Ich möchte die elektrisch geladene Luft an mich heranlassen, überall, meine Kleidung loswerden. Aber meine Hände sind steif, zeigen die Adern, das Knochenweiß. Ich hake eine Hand in den Ausschnitt meines T-Shirts, reiße den Stoff auf. Ich laufe weiter zum Rand eines gerade entfalteten Betonbeckens, durchwuchert von Stahlnerven. Aus einer mannshohen Rohröffnung wächst eine zähe graue Blase, platzt, gibt einen Schwall frischen Zements frei.

Ich sehe hinab ins Becken, sauge den Zementgeruch ein, so weit es mein Brustkorb noch zulässt. Schon unbeweglich in allen Gelenken lasse ich mich nach vorn fallen, versinke in der Masse. Ich spüre Vitalität, Materie voll roher Energie, die um mich herum pulsiert. Als ob es mit mir spricht. Es heißt mich willkommen.


 

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