Das Nathanstift und seine Kinder

26.10.2010, 11:00 Uhr
Das Nathanstift und seine Kinder

© Mark Johnston

Von der Wand neben dem Eingang schauen sie herab: propere Babys mit Kulleraugen, Kinder mit Zahnlücken, junge Frauen, alte Frauen, Männer mit und ohne Bart. Manche Gesichter blicken froh und forsch in die Welt, andere skeptisch und scheu. 300 Menschen haben dem Klinikum für das Kunstwerk „Geboren in Fürth“ Fotos von sich geschickt. Sie alle sind nun (oder werden noch) auf Tafeln aus emailliertem Stahlblech verewigt — in der Eingangshalle und den Fluren der Frauenklinik. Die am längste zurückliegende Geburt datiert aus dem Jahr 1920, die jüngste aus dem August 2010.

Wärmeschränke für Wäsche

Grafiker Armin Stingl und Architekt Andreas Pietsch haben mit dem Mosaik einem Mann ein Denkmal gesetzt, dem Fürth die erste Geburtsklinik verdankt: Alfred Nathan. Der jüdische Anwalt hatte seiner Heimatstadt Anfang des 20. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als in der Arbeiter- und Industriestadt jedes dritte Kind keine drei Jahre alt wurde, 300000 Goldmark vermacht. Von dem Geld sollte eine Stiftung gegründet werden. Ihr Zweck war die Errichtung eines Wöchnerinnen- und Säuglingsheims.

1909 öffnete das Nathanstift in der heutigen Tannenstraße 17 seine Pforten. „Ein „segensreiches Haus“, wie Barbara Ohm, ehemalige Stadtheimatpflegerin und Mitglied des Stiftungsrats, bei der Einweihung des Mosaiks erklärte. Die Klinik wurde mit elektrischem Strom versorgt, war für damalige Verhältnisse hygienisch einwandfrei und außergewöhnlich gut ausgestattet. Es gab Wärmeschränke für die Wäsche der Säuglinge und Wöchnerinnen und Brutkästen. Fast 60 Jahre später zog das Nathanstift vor allem aus Platzgründen auf das Gelände des heutigen Klinikums um. Dort trägt nun nicht mehr nur die Geburtsklinik den Namen des Stifters, sondern die gesamte neue Frauenklinik.

Das sei gewiss in Nathans Sinne, meinte Chefarzt Prof. Dr. Volker Hanf, schließlich sei es ihm um die Rettung der Kinder und Mütter gegangen. Zur Einweihung des Wandmosaiks waren alle „Kinder des Nathanstifts“ eingeladen, die Bilder zur Verfügung gestellt hatten. Als Dankeschön erhielten sie das von Klinikumssprecher Kamran Salimi herausgebrachte Buch „Nathanstift und Frauenklinik in Fürth“, das es kommende Woche auch im Buchhandel gibt. Hedwig Müller (88) ist die zweitälteste Fürtherin im Mosaik. „Das war eine wunderschöne Idee“, schwärmte sie nun, und dass sie mitmachen würde, sei selbstverständlich gewesen. So ging es auch Anthony B. Kling, der sein Konterfei aus Amerika sandte, und Herbert Ullrich (88), der die Bilder seiner Kinder schickte.

Die Zwillinge Rudolf Ullrich und Eva Lippmann — beide leben in Wachendorf — kamen im „alten“ Nathanstift zur Welt. Ihre Mutter, Ilse Ullrich, lebt nicht mehr. Der Vater berichtete nun, er und seine Frau hätten damals ums Eck gewohnt, in der Tannenstraße 4. Als der ehemalige Zugschaffner am 16. August 1948 von der Arbeit heimkam, war er Vater von zwei Acht-Monatsbabys. Einen Monat blieben die Zwillinge „drüben im Stift“, wo sie, wie das üblich war, auch gleich getauft wurden. Herbert Ullrich brachte ihnen täglich die abgepumpte Milch seiner Frau. Doch die reichte nicht. 25 Liter Milch von anderen Müttern fütterten „die freundlichen“ Ordensschwestern“ zu — für vier Mark pro Liter, wie Ullrich noch sehr genau weiß. Darüber, dass das die Kasse zahlte, war er mindestens genauso froh wie darüber, dass seine Kinder „so gut untergebracht waren“.