Das Summen in dir

14.5.2013, 08:53 Uhr
Das Summen in dir

© Hippel

Bei erhöhter Temperatur springen die Knospen auf. Türen springen auf, Fenster. Es springen Blätter und Blüten auf. Wenn es lange Zeit kalt war, wie in diesem Jahr, platzen alle Knospen auf einmal. Als die Sonnenstrahlen an diesem Morgen deine Zimmerwände abtasten, kannst du hören, wie die Hüllen knacken, feine Fäden ziehen und sich ganz öffnen mit diesem Knospengeräusch. Das ist kein einzelner Laut, das bündelt sich, legt sich auf einen Zeitpunkt an diesem Morgen, schwillt an, ein Raunen zuerst, dann ein Zischen durch die schnelle Aufeinanderfolge und schließlich ein Knall, als würden alle Einwohner der Stadt gleichzeitig in die Hände klatschen.

Dieses Geräusch hallt in deinen Ohren nach. In der Nacht fühltest du dich wie ein heißer Brotlaib, noch im Ofen, unter Hitze. Planeten kamen ganz nah an dein Fenster im Traum, Uranus, Mars, Saturn, als könntest du sie mit der Hand berühren. Ihre Oberflächen waren trocken, und unten öffnete sich das All; du hattest Durst und Angst zu stürzen. Jetzt, bei diesem Laut von draußen, zieht sich deine Haut zusammen, bildet winzige Spitzen. Dann riechst du Frühling, als würdest du ein Glas Honig öffnen, frische Teeblätter aufgießen, und eine Erregung durchläuft dich, rauscht vom Kopf durch den Hals, an Rückenwirbeln und Rippen entlang, schlägt an deine Herzkammern und füllt das Becken ganz, bevor sie als Brandung in deine Beine dröhnt. Vorsichtig befühlst du deine Stirn, deinen Hals, horchst in dich hinein. Ein kurzes Husten, dann stehst du auf.

Während es noch in dir brandet, schiebst du die Gardine zur Seite, die weiße Spitze des Winters, schaust nach draußen. Es gibt so viele Sonnen wie Fenster an diesem Morgen. Die Schornsteine haben das Rauchen aufgegeben. Die Autos wollen Juwelen sein. Die Natur arbeitet, gebiert. Unbezähmbar grün sprießt es aus dem Rücken des Grastiers. Es sind die Wegränder Gras und die Straßenränder. Die Hände der Landschaft sind Gras, und du stellst dir deine nackten Füße in diesem Gras vor, wie weich und viel es sich anfühlt, wie es kitzelt.

Deine Knie sind wacklig, dein Magen ist ein Summen, von dem du nicht weißt, ob es gut oder schlecht ist. Aber du ziehst dich an, bindest deine Schuhe und gehst hinaus, ohne etwas zu essen, ohne Tasche und Telefon. Erst fühlt sich dein Gesicht kalt an, schweißfeucht. Dann leckt die Sonne die Feuchtigkeit ab und fügt, was sie in deiner Iris findet, den Blüten hinzu. Krokusse öffnen ihre Trichter, um die ersten Bienen zu fangen. Forsythien malen ihr Gelb so dicht, als gäbe es andere Farben nicht. Die Ahorngruppe gibt Grün ins Gelb. Ein Birnbaum mit weißer Blüte mischt sich mit einer rosafarbenen Kirsche. Jedes Gänseblümchen zählt schon eine Liebe aus. Es läuten Sonntagsglocken, Osterglocken, Schneeglöckchen. Die Blausterne ahmen Galaxien nach auf der Wiesenfläche, die nach erwärmter Erde riecht. Der Himmel vereint die ganze Palette in einem Monetmoment, blinkt als Perlmutt herunter wie eine polierte Muschelschale.

Du läufst, grüßt die Bäume, die Beete und pulsierst, als würdest du in jeder Rinde stecken, in jedem Stängel, jedem Halm, von Ameisen elektrisiert. Eine Quelle ist aufgegangen, direkt im Asphalt; ein Wasserrohr hat sich vom Winter freigemacht, sprudelt und singt. Meisen trinken dort, verteilen Tropfen mit ihren Flügeln. Die Blätter bauen Baumhäuser. Im Park die Verstecke für Geschichten sind wieder blickdicht.

Du schließt deine Augen, spannst deine Arme vom Nord- zum Südpol, lässt die Feldlinien dich durchströmen. Du siehst eine Wand aus unwirklichen Steinen. Gebirgeinneres, herausgebrochen, aufgebaut zu einer Feste, einem Schloss. Quarzeinschlüsse sprühen, machen das Bauwerk mal durchsichtig wie ein leichtes Gewebe, mal greifbar, als sei es tatsächlich da. Turmspitzen siehst du, Tauben, die sich auf den Dächern putzen, und am Fundament einen Fluss. Der spricht hell mit jeder Welle, spiegelt, schreibt an den Unterseiten der Brücken von der Suche nach Glück.

Du öffnest deine Lider wieder. Die Gärten unter Apfelblüte sehen aus, als hätte es geschneit, ein Schneehang sich gebildet. Aber der Winter ist vorbei. Die Strommasten surren vom Blütenstaub. Die Pollen beschießen dich wie beschleunigte Atome, lassen Brust und Augen anschwellen. Das Summen in dir ist ein Anfang, ein erwachender Bienenstock. Du bist hungrig. Es scheint, als seist du geheilt.



 

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