Dazugehören

8.10.2013, 09:39 Uhr
Chronist eines Scheiterns: „Freiheit“Autor Ulrich Kulp.

© Draminski Chronist eines Scheiterns: „Freiheit“Autor Ulrich Kulp.

So lange er denken konnte, hatte er sich danach gesehnt, dazuzugehören. Irgendwann, irgendwo, irgendwie. So lange er denken konnte, begleitete ihn ein Neidgefühl, wenn er sah, wie viele Menschen sich anscheinend in Gruppen, Vereinen, ja sogar in Parteien wohlfühlten.

Er war schon in der Familie ein Fremder. Sicher, man hatte ihn gewickelt und gesäugt, gebettet und später fester ernährt, aber das waren nichts als lebenserhaltende Maßnahmen gewesen. Als die wirkliche Integration begann, mit dem Erlernen der Sprache, war die Sache recht bald aus dem Ruder gelaufen. Die einfachen, noch bedeutungslosen Silben zu Beginn waren ihm noch ganz gut gelungen. Sie wirkten wie Blumensträuße zur Begrüßung und zauberten ein Lächeln ins Gesicht des Gegenübers. Und als ihm erst „Mama“ über die Lippen kam, hatte er eine ganze Blumenwiese zum Überreichen parat gehabt.

Die ersten Male waren überwältigend gewesen. Für beide Gesprächsteilnehmer. Bis seine sprachlichen Fähigkeiten so weit entwickelt waren, dass man, von außen betrachtet, die Integration auf gutem Wege wusste, weil er verstand, was gesagt wurde – alles. Nur verstand er damit auch den Betrug der Worte, besonders der schönen, spürte die eigentliche Richtung einer Botschaft, das, was der andere wollte – wie auch immer er es formulierte. Es ging um Manipulation.

Die Familie wollte ihn zu einem Mitläufer machen. Sie nannten es „Mitglied der Gesellschaft“. Damit degradierten sie die beste aller Gruppen zur Zweckgemeinschaft, deren Ziel nicht einmal mit ihm abgestimmt war. In der Schule gab es den erzwungenen Klassenverband, der nicht wirklich etwas hergab zur Identifikation – es sei denn, zu einer negativen: „Wir sind geknechtet und alle gegen die Pauker!“ Nicht wirklich eine Heimat für einen, der sich in einer Gruppe zu Hause fühlen wollte, in der sich die Mitglieder tatsächlich mochten und schätzten. Und auf dem Schulhof – befreit vom Druck? Das größere Übel! In den verschiedenen Gruppen aber gab es erbitterte Schlachten und feinsinnigste Intrigen im Kampf um Positionen. Kein Platz für einen, der weder kämpfen noch intrigieren wollte, kein Platz für einen wie ihn.

Er akzeptierte das und suchte woanders die Heimat zu finden, die er sich so sehr wünschte. Er versuchte es auf die klassische Art: im Sportverein. Auf dem Platz allerdings gab es wieder nur ein Thema: Kampf. Doch fand er im Verein immerhin einen Platz, der eine temporäre Glückseligkeit verhieß: die Theke. Wenn der Alkohol floss, ließ er die Gaukelei einfach zu und schwamm darin dahin – endlich inmitten von Gleichgesinnten. Das ging eine Weile gut, bis er feststellen musste, dass die intensiven Gespräche, die er mit dem einen und der anderen in eben jenem wunderbaren Zustand geführt hatte, von diesen anderen nach dem Kater vergessen waren. Nicht mehr da. Nur er erinnerte sich an jedes Wort, an jedes Gefühl – tief in sich drin.

Und draußen? Sollte er mit irgendwelchen Hunderten in irgendeiner Nordkurve Schlachtgesänge grölen oder mit irgendwelchen anderen Hunderten Transparente in den Himmel halten in einem Marsch gegen irgendwas? Marschieren konnte er schon gar nicht mehr, seitdem ihn Mitte der 70er der Bundeswehrslogan „Schweiß verbindet“ auf den Exerzierplatz gelockt hatte. Es stank nach Zwang, wie schon zuvor im Klassenverband. Danach gab es die „68er“ schon längst nicht mehr, von denen die meisten sich, später befragt, in abgeklärter Rückschau ehrlicherweise als pure Mitläufer enttarnt hatten, nur eben einer Gegenbewegung.

Einem Protest um des Protestes willen – auch wenn der gerechtfertigt und intelligent und eloquent vorgetragen wird — hätte er sich auch nicht anschließen können. Insofern war es müßig, dieser einzig sinnstiftenden zusammenschweißenden Bewegung nachzutrauern, in der er irgendwie so gerne mitgeschwommen wäre. Vielleicht hätte er sich sogar ein bisschen verraten dafür. Tja, es hatte nicht sein sollen. Der Fluch der späten Geburt?

Seine eigene Generation, die man wohl die 78er nennen könnte, hatte gar nichts zu bieten. Zu spät, um bei denen mitzulaufen, die schon alles erledigt hatten, auch wenn man sich noch mit einem olivgrünen Parka gegen ein undefiniertes Establishment uniformierte. Und die, die dann auf ihren Parteitagen strickten und einer bleichen, apodiktischen Johanna von Orléans lauschten, gehörten eigentlich unabhängig vom Geschlecht zur Frauenbewegung. Damned, bei aller Liebe und Berechtigung, nee. Und gleichzeitig war er viel zu früh dran, um sich dann wie die 88er, modisch immer auf der Höhe der Zeit gekleidet, zielbewusst in eine Gesellschaft zu integrieren, aus der man das Beste rauszuholen gedachte.

Gab es so etwas wie die 98er? Hatte er die verpasst? Die 2008er klickten ihre Identitäten ohne Sorge in eine www-Welt. Ihre Peergroups waren irgendwie virtuell, in die Augen sehen konnte man da keinem, höchstens per Webcam. Vielleicht vermissten die ein Dazugehören gar nicht, mit gleichgesinnten Menschen um sich herum. Und vielleicht war das sogar gut so. Machten denn nicht alle Gruppen irgendwann irgendwas, was ein Einzelner in überlegter Selbstverantwortung so nie gemacht hätte? „Wir sind das Volk!“ – ah, das wäre noch mal eine Chance gewesen. Aber die waren auf der anderen Seite gewesen. Und er musste sich bei aller Sehnsucht eingestehen, dass er auch für dieses mächtige Gemeinschaftsgefühl nicht Jahrzehnte der Unterdrückung hätte auf sich nehmen wollen. Nein, er würde wohl ein Heimatloser bleiben, ein Außenseiter, ein Beobachter. Manchmal traf er so einen wie er selber einer war. Auch dann stellte sich kein Gemeinschaftsgefühl ein. Eigentlich erst recht nicht.


 

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