Der Bussard und der Affe

20.11.2012, 09:10 Uhr
Der Bussard und der Affe

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Der Bussard und ich, wir hatten ein seltsames Ritual. Er, da er wusste, was für ein hoffnungsloser Hasardeur ich war, wie sehr ich den Nervenkitzel und die Nähe zum Tode liebte, lud mich an jedem ersten Freitag im Monat ein, auf seinem Rücken vom Wald aus bis über die steinige Wüste zu fliegen. Ohne je einen Hehl daraus zu machen, verfolgte er dabei stets nur ein Ziel: mich aus größtmöglicher Höhe auf den felsigen Grund fallen zu lassen, auf dass ich mir das Genick brechen würde und er mich in aller Seelenruhe verspeisen könnte.

Ja, ich wusste um seinen Plan, und genau deshalb flog ich jedes Mal aufs Neue mit. Zum einen war es, wie gesagt, das Angesicht des Todes, das im Flug stets mehrere Dutzend Meter unter mir lauerte, und mich das Leben intensiver spüren ließ als alle irdischen Genüsse der Welt zusammen. Andererseits war alleine schon der Blick von hoch oben auf die von dort so lächerlich klein erscheinende Welt es wert, dieses Wagnis alle vier Wochen abermals einzugehen.

Auch an jenem Tage wartete ich also wieder in der Krone der alten Pappel auf mein gefiedertes Flugzeug. Pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt flog er, von der Steppe kommend, auf mich zu und setzte sich neben mich auf den starken Ast des großen Baumes. „Na mein haariger Freund“, krächzte er, „wie geht’s, wie steht’s denn an diesem wunderschönen Morgen? Hätten Sie eventuell Interesse, mein Festmahl zu sein?“ „Na, da lassen Sie mich doch mal überlegen, mein werter, gefiederter Gierschlund. Hach, ich kann einfach nicht richtig nachdenken, so nah dem profanen, sandigen Boden unter uns. Was hielten Sie davon, verehrter Bussard, wenn Sie mich auf Ihren Schwingen etwas weiter in die Lüfte trügen und ich mir Ihr geschätztes Angebot in der Freiheit der Weite ein wenig mehr durch den Kopf gehen ließe?“ „Das ist ein prächtige Idee, mein Lieber,“ antwortete der Vogel und ich schwang rasch meine Beine über seinen knochigen Rücken.

Schnell schlang ich meinen Schwanz um den muskulösen Hals meines Vehikels und der Vogel stieß sich mit einem ruckartigen Strecken seiner sehnigen Beine vom Ast ab. Mit kräftigen Flügelschlägen kletterten wir in die Höhe und flogen weiter und weiter in Richtung dämmriges Nichts.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis wir eine ausreichende Höhe erreicht hatten und die kahlen, steinigen Gründe der nur von einigen Kakteen und Klapperschlangen bewohnten Steppe überflogen. Hier begann das waghalsigste Rodeo, das je ein Affe erlebt hat. Im einen Moment noch ruhig über die Winde gleitend, bäumte der riesige Vogel blitzschnell seinen Rücken wie ein fedriger wilder Stier, um meinen Klammergriff zu lösen und mich dem freien Fall zu überlassen. Doch flink und kräftig wie ich bin, spannte ich geschwind meine Beinmuskeln um seinen drahtigen Leib und blieb wie festgenäht auf dem Vogel haften. Schneller als sonst zog ich an diesem Tag seinen abscheulich beschnabelten Kopf mit meinem Schwanz in Richtung und meines Körpers hin und...

Bis ich die Fassung wieder erlangte, hatte ich bereits wertvolle Zeit verloren, denn wir sackten im Sturzflug gen Boden.

Der Kopf des Bussards hing leblos seitlich an seinem krummen Hals, und der Vogel tat keinen Mucks mehr. Es hatte keinen Sinn zu versuchen, mit meinen Armen seine Flügel zu spannen oder den toten Vogel sonst irgendwie als Fallschirm zu nutzen. Alles was mir blieb, war, dafür zu sorgen, dass der riesige Raubvogel im Sturz unter mir blieb und er mir beim Aufprall als Polster diente, was mir ja, wie du merkst, auch ganz gut gelang, sonst wäre ich heute nicht hier, um dir diese Geschichte zu erzählen.

„Und was hat das Ganze damit zu tun, dass du blind bist, Großvater.“ Geduld, mein Kind, dazu komme ich gleich.

Als ich den kahlen Wüstenboden auf mich zurasen sah und der Aufprall unmittelbar bevorstand, schloss ich automatisch die Augen und gab mein Schicksal in die Hände des Allmächtigen. Es war, als flog ich durch einen langen, engen Tunnel auf gleißendes Licht zu und plötzlich, es muss der Moment des Aufpralls gewesen sein, war da dieses Blitzen, das heller war als alle Sonne, die je die Augen eines Affen berührt hat. Das Licht umgab mich völlig. Instinktiv kniff ich meine Augen zusammen und musste mich schmerzlich erinnern, dass diese bereits geschlossen waren. Ich spürte förmlich, wie dieses Licht sich durch meine Netzhaut brannte.

Ich weiß nicht, wie lange ich da auf dem Wüstenboden gelegen habe, aber als ich mit schmerzenden Gliedern wieder erwachte, hatte ich zwar mein Leben zurück, aber das Augenlicht hatte der Herr mir genommen.

„Das ist eine doofe Geschichte, Opa. Die glaub ja nicht mal ich.“

Das mag sein, mein Kind, doch die Geschichte ist wahr, auch wenn sie erfunden ist. Man kann verlieren, selbst wenn man der Sieger ist.



 

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