Die bösen Geister der Turnhalle

29.11.2011, 10:40 Uhr
Die bösen Geister der Turnhalle

© Winckler

Die Sonne schien golden an diesem schönen und kühlen Herbsttag, als er seine Tochter vom Sport abholen wollte. Der Herbst verzauberte die bis dato graue Woche in ein rot-braun-gold schimmerndes Farbenmeer. Die Luft war herrlich klar, der Himmel stahlblau und weit.

Die bösen Geister der Turnhalle

Als er durch die gläserne 60er-Jahre-Tür der Turnhalle trat, fühlte er sich in Bruchteilen von Sekunden um Jahrzehnte zurückgeschleudert, just in dem Moment, in dem die Tür hinter ihm laut scheppernd und klirrend in den windigen Metallrahmen krachte. Zurückkatapultiert in die Zeit, in der er der kleine, pummelige Junge war.

Die Halle roch, wie damals, nach stinkendem Mäusedreck, scharfem Urin und Schweiß. Schier unerträglich bohrte sich dieser ätzend-beißende Geruch mit einem Schlag durch seine Nase in sein Gehirn und verursachte ihm ein bekanntes Gefühl von Ohnmacht und Wut. Ein tiefes Gefühl, ein Alptraum, den er jahrelange mühevoll und mit großen Schaufeln des Vergessens gefüllt, in seinem Unterbewusstsein vergraben und versteckt hatte. Ein Déjà-vu, ein Blitz.

Wie in Trance nahm er das Geschrei spielender Kinder aus weiter Ferne wahr. Das Getrampel kleiner Kinderfüße, das kurze harte Klatschen des Spielballes auf dem Turnhallenboden, das schrille Gekreische und Gekicher, das gellende Signal einer Trillerpfeife — all das ließ ihn taumeln. Er stützte sich auf den viel zu heißen und klebrig schmutzigen Heizkörper und alles drehte sich plötzlich um ihn herum.

Wie ein großer, schwerer Hammer trafen ihn die alten, verdrängten Erinnerungen. Er wurde kreidebleich und der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er sah auf einmal wieder die alte, fette und verbiesterte Grundschullehrerin vor sich. Sein persönliches Monster — bis heute. Der böse Drache, der ihn immer wieder vor der ganzen Klasse bloßstellte, ihn schikanierte und ihn zum Heulen brachte.

Er sah die kleinen widerlichen und ekelhaft schleimigen Grimassen der Mitschüler, die lauthals lachten und mit Fingern auf ihn zeigten, mit triefendem Spott und Hohn übergossen und ihn brutal hänselten.

Schlagartig sah er sich Jahre später. Älter. In der nächsten Turnhalle, auf der Matte beim Zirkeltraining, bei dem drahtigen, zwergenhaften und frustrierten Ex-Soldaten, der sich Pädagoge schimpfen durfte. Er hörte auf einmal deutlich sein stakkatohaftes lautes Gebell: „Beweg dich du fettes Arschloch!“

Ihm schossen zeitgleich Tausende Gedanken durch den alptraumgeschwängerten und schwirrenden Kopf. Er merkte, dass in ihm diese bekannte tiefe und ohnmächtige Wut hochkroch und er sich in Rage dachte. Er fluchte innerlich über das, was man ihm angetan hatte in diesen Turnhallen, mit Unterrichtsmethoden, die der schwarzen Pädagogik oder der NS-Ideologie in nichts nachstanden, damals in den 1970er und 1980er Jahren, als er diesen Unterricht in Schule und Sport wie ein angeschossenes Tier durchleiden musste. Es waren diese Unterrichtsmethoden; die der alten Pauker, derjenigen, die den Krieg unbeschadet überstanden hatten und der Entnazifizierung entkommen waren.

Manche waren aber einfach nur brutale Sadisten. Diese menschenverachtenden Kreaturen hatten Generationen Kinder gebrochen und zu allem Übel auch noch neue Lehrer angelernt und diese Neuen hatten bestimmt nicht alle die nötige Courage mitgebracht, sich aufzulehnen oder es besser zu machen. Sie hatten ihn Sport hassen gelehrt.

Ja, er hasste Sport. Sport ist das Kräftemessen, das Sich-über-den-anderen-stellen, das Erringen eines Sieges, der Genuss des Triumphes und der bittere Geschmack des Verlierens — alles unter dem Deckmantel des Spiels. Es ist Krieg, wenn Kinder „Völkerball“ spielen und sich mit dem kugelrunden harten Ball abschießen, bis nur noch einer übrig bleibt — der Triumphator — der, so tragisch das ist, nicht der intelligenteste der Gruppe ist.

Er kannte diese Gewinnertypen, allesamt dumpfe und hohle Gestalten. Schach, Dame, Halma, Mensch ärgere Dich nicht, Skat, Poker — alles Spiele? Oder doch vielleicht Krieg, der zwingend einen Sieg verlangt, keine diplomatische Lösung anstrebt. Diplomatie und Spiel? Ha! Welch’ Farce! Seine Gedanken schwirrten und wurden immer schneller. Sport = Gewalt! Einfache Gleichung. Was ist Sport? Ist das Sportsgeist, wenn die Polizei für Millionen Euro Steuergelder, sogenannte Sportsfreunde jedes Wochenende vor den Fußballstadien voreinander schützen muss, damit keine Massaker passieren. Wenn blinder Lokalpatriotismus oder blanker Hass Städte und Länder trennt und Gewaltorgien Spielstätten und deren Städte in Blut tränken.

Spielt etwa sein Kind auch gerade Krieg in der stickigen Halle? Lernt es auch gerade das Handwerkszeug für Krieg? Ist das Spielen oder was? Werden Eltern zu Furien, wenn Kinder gegeneinander antreten, wird da Hass geschürt oder Kampfgeist geschult? Hassen die Kinder die Kinder der gegnerischen Mannschaft?

Plötzlich sieht er seine Tochter glücklich strahlend, laut lachend und quietschend aus der Turnhalle flitzen und wird rapide aus seinen finsteren Gedanken gerissen.

Es sind viele Jahrzehnte vergangen, seit er als Kind in einer Turnhalle schikaniert wurde. Nein, Zeit heilt nicht alle Wunden! Und Sport hasst er immer noch. Die Grundschullehrerin hat er Jahre später erfahren, ist qualvoll, alleine und verlassen verendet. Der Gedanke daran gibt ihm einen gewissen inneren Frieden, der ihn manchmal, aber nur manchmal, leicht erschauern lässt.

Der Sportsoldat quält hoffentlich niemanden mehr und sitzt heute neben der Grundschullehrerin am ewigen Fegefeuer für Lehrer und Erwachsene, die Kindern die Lust an Sport und Spiel — und das unbeschwerte Lachen — genommen haben. Seiner Tochter hatte niemand den Spaß an Spiel und Sport verdorben — auch wenn Zeit keine Wunden heilt, so ändert sie sich doch.



 

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