Die Grenzen der Vorhersehbarkeit

12.7.2011, 00:00 Uhr
Die Grenzen der Vorhersehbarkeit

Letzthin pilgerte ich in die Nürnberger Innenstadt, um mein Sparbuch zu besuchen. In der Bank lief ich unversehens der für mich zuständigen sogenannten Kundenbetreuerin über den Weg und fand mich im Handumdrehen in ein Gespräch über langfristige Geldanlagen verwickelt. Da sie mir Kaffee und Pfefferminzbonbons anbot, gab ich mich ihren Ausführungen quasi willenlos hin, obwohl ich mir meine Nachmittagsgestaltung anders vorgestellt hatte.

Die Sache mit dem Geld ist eine überaus schwierige, da derzeit ganze Staaten an Großbanken verscherbelt werden. Angeblich kann Belgien nicht einmal mehr die Stromrechnung für die Autobahnbeleuchtung bezahlen. Diese Extravaganz veranlasste übrigens meinen Vater, der nichts Geringeres als einen gesunden Menschenverstand besitzt, schon in den 1970er Jahren dazu, Belgien in die Kategorie „total idiotisch“ einzustufen. Zwar machen die Ratingagenturen, welche seitdem die Weltherrschaft an sich gerissen haben, im Prinzip nichts anderes, bloß hocken diese in der schicken Londoner City und nicht in Vorra an der Pegnitz.

Doch zurück zum Thema: Die Bank-Dame begann in den schillerndsten Farben auszumalen, wie viel Geld ich in 25 Jahren zu erwarten hätte, wenn ich diesen oder jenen Vorsorgeriesterprämiensparvertrag abschlösse. Wohl gemerkt: nicht übermorgen oder nächste Woche, sondern in einem Vierteljahrhundert! Ich halte meine Fantasie für nicht gerade unterentwickelt, aber um mir mich selbst und meine Lebensumstände im Jahre 2035 auszumalen, reicht meine Vorstellungskraft einfach nicht aus.

Ich probierte spaßeshalber, das Pferd rückwärts bzw. die Zeit von hinten aufzuzäumen. Hätte ich 1986, überlegte ich, auch nur im Geringsten geglaubt, wenn jemand vorhergesagt hätte, dass es im Jahr 2011 ein vereintes Europa — Euro inklusive — geben würde? Meine Antwort: Nein. Hätte ich damals geglaubt, dass de facto jeder Mensch auf der Welt mit jedem anderen per Handtelefon, das dabei womöglich in der Hosentasche steckt, würde sprechen können? Nein. Dass ich qua WLAN Spielfilme aus dem Internet in den Laptop saugen können würde, ohne auch nur mein Bett zu verlassen? Nein.

Dass umgekehrt der Vergangenheit angehören würden (ohne Wertung und in alphabetischer Reihenfolge): Bundesbahn und Bundespost, D- Mark und Diplomstudium, Eiserner Vorhang, handgeschriebene Briefe, Mittelstreckenraketen, Schallplatten und sichere Staatsanleihen, soziale Marktwirtschaft, Wählscheibe und Wehrpflicht, Zahnersatz auf Krankenschein? Nein.

Und da wurde mir klar: In dieser unfassbar komplexen Welt, deren tobender Wahnwitz wenigstens meine Verstandeskapazität um Größenordnungen übersteigt, operieren wir jeden Augenblick jenseits der Grenzen aller Vorhersehbarkeit. Also in tiefster Nacht bei dickstem Nebel mit verbundenen Augen, dazu über dem Kopf einen Kartoffelsack. Und die Zukunft? Ein blendend weißes Licht, das jeden Blick hinter die dünne, gestrichelte Linie, die das Jetzt markiert, vereitelt.

Noch am 10. September 2001 ahnten wohl nur die ein oder zwei Dutzend Beteiligten, dass am Abend des folgenden Tages die Welt eine andere sein würde: Der „weltweite Krieg gegen den Terrorismus“ begann so plötzlich und unerwartet wie ein Schlaganfall, und noch vergangene Weihnachten (ich erinnere mich vor allem an gewaltige Schneemassen) hätte wohl niemand vorhersehen können, dass dieses Frühjahr ein Tsunami in Japan die CSU zur Anti-Atom-Partei verwandeln und Nato-Flugzeuge in Libyen mit Bomben um sich werfen würden. Im Januar zweifelte ich lediglich daran, dass es jemals wieder Temperaturen über dem Gefrierpunkt haben würde.

Die Zukunft ist und bleibt auch deswegen schwer zu berechnen, weil im Falle einer überzeugenden Vorhersage gegengesteuert wird, so dass die Wahrhaftigkeit solcher Vorhersagen niemals überprüft werden kann. Der Prophet verbleibt dennoch in Amt und Würden, da er rechtzeitig gewarnt hat. Daher wird ständig alles mögliche vorhergesagt. Renditen und Krankheiten, Spielausgänge und Klimaumschwünge, technische Allheilmittel wie das Elektroauto oder Kernfusionskraftwerke, Wirtschaftskrisen und Weltuntergänge, sei’s in der Ausprägung der Zeugen Jehovas, sei’s dem Maya-Kalender gehorchend. Wenn schließlich die Zukunft Gegenwart ist, dann schreien diejenigen „Hurra!“, deren Vorhersage zutraf, die anderen verziehen sich möglichst unbemerkt und basteln an der nächsten Prophezeiung.

Die Natur selbst ist ein sturer Bock und lässt sich selten von einer Vorhersage beeindrucken. Am deutlichsten wird dies am täglichen Wetterbericht, der trotz Myriaden Satelliten und bodengestützter Messinstrumente immer noch viel Ähnlichkeit mit der Eingeweideschau eines gallischen Druiden hat. Im Vergleich zu den Hightech-Wetterfröschen ist die Bauernregel „Kräht der Hahn früh auf dem Mist, ändert sich’s Wetter oder es bleibt, wie’s ist“ erfrischend präzise.

Einige indigene Völker beschworen angeblich den Regen mit Trommeln und Tanz, und im alten Ägypten prophezeiten Priester unter Anrufung von Isis und Osiris treffsicher die Nilfluten — wir spätgeborenen Modernen spötteln natürlich, dass die Kaste der Schamanen ihr profanes Wissen der natürlichen Abläufe hinter einem magischem Brimborium verschleierte, um ihre Macht, die gleichbedeutend mit einem faulen Leben in Saus und Braus war, zu zementieren. Immerhin: Seit Menschengedenken schon kann man mit Vorhersagen ein luxuriöses Leben finanzieren.

Sogar meine Großmutter behauptete, sie könne eine gewisse Person namens „heiliger Petrus“ dazu zwingen, die Sonne scheinen zu lassen, indem sie ihren nackten Hintern zum Fenster hinaushielte. Zum großen Bedauern ihrer halbwüchsigen Enkel setzte sie, selbst in den verregnetsten Sommern, diese Drohung nie in die Tat um, sprich: Die Kittelschürze, die sie jahrein, jahraus trug, blieb ungelüpft und die Grenzen der Schicklichkeit gewahrt.

Bei aller Bescheidenheit nehme ich jedoch an, dass der Hintern einer alten Dame nicht in der Lage sein kann, das thermodynamische Geschehen in der Troposphäre zu beeinflussen — freilich ist auch dies nichts weiter als eine, zwar schwerstens begründete, so doch in keiner Weise beweisbare Vorhersage. Ich selbst kann und mag nicht ausschließen, dass es geheimnisvolle Zusammenhänge gibt, die die Grenzen unseres Verständnisses überschreiten. Zu oft ist es mir selbst schon gelungen, einen Platzregen aus heiterem Himmel zu provozieren, schlicht indem ich mich dafür entschied, mit dem Rad und nicht mit der U-Bahn nach Fürth zu fahren.

Keinen Einfluss habe ich natürlich auf den vorhergesagten Polsprung oder den Ausbruch des Yellowstone-Vulkans; beides ist ja bereits für die nächsten paar Tausend Jahre angekündigt. Ich denke: Selbst wenn das Brieftaubenwesen zusammenbricht, weil das Erdmagnetfeld schlappmacht, würde das fahrradbasierte Postbotentum gewaltig profitieren. Und den Yellowstone-Krater wird sicherlich rechtzeitig ein Meteorit verstopfen, der im richtigen Augenblick ins Loch fährt wie ein Sektkorken auf der Reise in die Vergangenheit.

Ich jedenfalls verzichtete auf das Versprechen von Reichtum, den unvorstellbar ferne Zeiten angeblich über mich schütten würden, bedankte mich recht artig für den Kaffee und verließ die Bank so rasch es ging.

Dann kaufte ich günstig einen vergammelten Fisch, in dessen Bauch ich mir Aufschluss über die Lottozahlen vom nächsten Samstag versprach. Mein Horoskop kündete nämlich fürs Wochenende einen unerwarteten Glückstreffer an.