Dresdner denken weiter

5.7.2013, 10:44 Uhr
Dresdner denken weiter

© Thomas Scherer

Bis in den 2. Rang hinauf waren die Reihen besetzt. Mit der Staatsoperette Dresden kann man wirklich Staat machen, auch wenn es ums Musical geht. Die meisten Menschen kennen „Cabaret“ in der Kinofassung von Bob Fosse und aus unzähligen Wiederholungen im Fernsehen: den Film mit Liza Minelli – den sollte man bei der Fürther/Dresdner Fassung aber besser vergessen.

Die Staatsoperette hatte Band, Chor, Statisten mitgebracht, die Inszenierung von 2011 sowieso für ihr Repertoire aufpoliert, in dem „Cabaret“ mit den Melodien von John Kanter, den Songtexten von Fred Ebb auch 2013/14 weitergespielt wird. 1966 war die Uraufführung, dann kam der Film – wie frisch ist das Stück heute noch?

Robert Lehmeier als Regisseur und Markus Meyer als Bühnenbildner haben sich zu Recht entschlossen, nicht den Film auf der Bühne zu imitieren, sondern „Cabaret“ sehr deutlich als ein Zeitgeschichtsdrama im Berlin des heraufziehenden Nationalsozialismus zu geben.

Neue Akzente

Da rücken dann ganz andere Figuren in den Vordergrund: besonders das Schicksal des jüdischen Gemüsehändlers Isaak Schultz, den Wolf-Dieter Lingk ganz unsentimental, aber mit tragischen Untertönen gibt. Er muss sein spätes Lebensglück aufgeben, um der Gattin in spe den Gewerbeschein nicht zu gefährden. Gloria Nowack spielt die um ihre Existenz besorgte Vermieterin, die bei ihren Logierherren gerne mal ein Auge zudrückt, wenn nur die Kasse stimmt, mit viel Musicalerfahrung, ist gut bei Stimme und berlinert nicht unnötig herum.

Die beiden haben für ihre glaubhafte Darstellung viel Beifall bekommen. Und Lehmeier sieht auch in Cabaret-Star Sally Bowles keineswegs die charmant-leichtlebige Engländerin, sondern eine kühl-kaltschnäuzige Blondine, die mit scharfem Ton ihre Karriere verteidigt: Abtreibung, abgelehnte US-Emigration. Und die am Ende in ihrer Gold-Lamé-Robe sehr deutsch aussieht wie später Emmy Göring.

Der arme amerikanische Dichter Clifford Bradshaw (Bryn Rohtfuss sieht eher ein bisschen irisch aus) ist bei alldem nur ein netter guy und Spielball der Zeitumstände – und macht sich rechtzeitig vor der Machtergreifung davon.

Unerwarteter Tiefgang

Mit diesen Gewichtsverlagerungen erreicht die Aufführung einen unerwarteten Tiefgang, man wartet vergebens auf schummrige Cabaret-Kaschemmen-Atmosphäre, stattdessen kommt zwischen den vielen Hitlerköpfen an den riesigen Kulissenwänden Sally als „Varieté“-Star ganz groß raus: Und Friederike Haas spielt die Rolle durchaus konsequent als eine blonde UFA-Tussi aus dem Propagandafilm.

Kein Wunder, dass einem da manchmal der Applaus in den Händen stecken bleibt. Auch wenn der puppenhafte Conférencier (Andreas Sauerzapf) seine Sache gut macht oder das Orchester der Staatsoperette Dresden unter Christian Garbosnik sachkundig und schmissig aufspielt. Zum Schmunzeln sind die g’schamigen Ganzkörper-Kondome der „Welcome“-Nummer, die Matrosenmützen-Kunden des umtriebigen Fräulein Kost, das bald die schützende Schulter des SA-Manns Ludwig findet: „Politik ? Was hat das denn mit uns zu tun ?“

Die Frage wird in der Dresdner Aufführung sehr deutlich beantwortet: Die Nutte von einst stickt jetzt das Hakenkreuz mit petit point und am Ende flackern die Lampen — Bomben auf Dresden. So kann Musical auch sein.

 

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