Fever

7.5.2013, 09:12 Uhr
Fever

© Draminski

Never know how much I love you...“ - die vielen Teenager sahen verzückt zu ihm auf. „Never know how much I care...”, sang er weiter, mit mächtig Schmalz in der Stimme, mitten hinein in die spitzen Schreie der vielen hübschen Mädchen. „When you put your arms around me...“ Er sah, wie sich weiter hinten in der Konzerthalle eine junge Frau die Arme selber um die Brust legte - mit verklärtem Blick. „I get a fever that’s so hard to bear!”

Die junge Frau – jetzt offensichtlich in einer Art Trance - kippte um. Sanitäter eilten hinzu. So müssen Konzerte sein, dachte er und setzte an zur nächsten Songzeile, die da unten bestimmt noch einmal für die eine oder andere Ohnmacht sorgen würde. Aber ein stechender Schmerz fuhr ihm in die Brust und nahm ihm von einem Augenblick auf den anderen die Luft.

Er wachte auf, schweißgebadet. Er stöhnte und versuchte sich zu orientieren. Er war zu Hause. Seit zwei Tagen. Hatte sich nicht mehr bewegen können vor Gliederschmerzen. Die Grippewelle! Kurzerhand hatte Julia ihn ins Bett verfrachtet und angefangen Krankenschwester zu spielen. Wo war sie jetzt? Offensichtlich nicht da. Er griff nach dem alten Fieberthermometer auf dem Nachttisch und klemmte es sich unter die Achsel. Fünf Minuten dauerte es nun, in denen die Quecksilbersäule langsam stieg und ihm am Ende Auskunft geben würde über seinen Zustand. Was für ein Traum! „Who do you think you are? Elvis or something?“ Yeah, dachte er und genoss noch einmal die Erinnerung an diese leider viel zu kurze Bühnenshow, auf der er einen viel zu weißen Anzug getragen hatte mit einem Schlag in den Hosenbeinen wie er schon Jahrzehnte aus der Mode war. Sein Haar war dicht und schwarz gewesen, ganz anders als in der Wirklichkeit, die ihn längst hatte kahl werden lassen, und an den Fingern der rechten Hand, mit der er das Mikro gehalten hatte, hatte er bunte Ringe getragen, die er in seiner kahlen Wirklichkeit als furchtbar tuntig beschrieben hätte. Aber er hatte gesungen wie er immer gern gesungen hätte: hingebungsvoll, mit einer Stimme, die direkt ins Mark der weiblichen Fangemeinde ging. Träume!

Er zog das Thermometer unter der Achsel hervor. 102 Grad! Das konnte nicht sein! Er musste sich verlesen haben – im Delirium! Er versuchte, seinen Blick scharf zu stellen. Es blieb dabei: 102! War er tot? Wie Elvis? Mit dem Ärmel des Pyjamas wischte er sich den Schweiß von der Stirn – eine Menge. Nur um sich selber als lebendig wahrzunehmen, versuchte er den Song weiter zu singen. „Sun lights up the daytime...“ Es klang nicht schön. Es kreischte auch niemand. Außer seiner krächzenden Stimme war nichts zu hören in diesem Krankenzimmer auf Zeit. „Moon lights up the night!“ hustete er weiter.

Oder war das die Aufbahrungshalle hier? 102 kann kein Mensch überleben. Auch kein Übermensch wie Elvis! Oder doch? Die Tür ging auf. Priscilla kam herein. Sie sah so fantastisch aus wie immer. Er wollte sich aufrichten zur Begrüßung, konnte sich aber plötzlich gar nicht mehr rühren. Stocksteif lag er unter der Decke. Gelähmt. Sie sprach nicht. Wortlos kam sie mit einer Schüssel kalten Wassers und einem Schwamm an sein Bett, setzte sich auf die Kante und begann sein Gesicht zu kühlen. Sanft fuhr der Schwamm über seine Stirn, hinter der die Gedanken hämmerten. Tot! Ich werde noch gewaschen, dachte er, dann kriege ich ein weißes Leinenhemd an, sie wird mir den Kiefer festbinden, und dann werde ich allein sein – für immer. Zu meiner Grabstelle werden bestimmt nicht generationenlang Scharen von Fans pilgern. Kein Gnadenland für untalentierte Schlagersänger wie er einer war. Über ihm würde sich der Sargdeckel senken und ihn für immer in unendlicher Dunkelheit einschließen.

Er wachte auf. Was für ein Traum! Erst war er Elvis gewesen, dann ein Elvis-Imitator oder irgendein namenloser Schlagerfuzzi, das war irgendwie nicht klar gewesen, dann war Priscilla gekommen. Jetzt stand sie am Fußende seines Bettes. Oder nein, das war nicht Priscilla, das war Julia, seine Frau. „Was schreist du denn hier so rum wie ein junger Romeo?“, fragte sie. „Geht’s dir wieder besser?” „Wie man’s nimmt”, antwortete er und wünschte sich in den Schlaf zurück. In den Konzertsaal. Zu seinen Fans. Stattdessen hatte er wieder diese Schmerzen in der Brust. Er griff nach dem alten Thermometer, um seine Temperatur zu messen. Das kam ihm vor wie ein Déjà vu. Irgendwie schienen seine Träume und sein Leben langsam ineinander überzugehen. Während das kalte Instrument unter seiner Achsel zu schmoren begann, sah er Julia aus dem Bad kommen. Sie sah wunderschön aus. „Ich habe extrem hohes Fieber“, sagte er. „Falls ich das hier aber überleben sollte, möchte ich dich heiraten!“

Sie lächelte und summte einen Vers aus ihrer beider Lieblingslied: „Romeo loved Juliet. Juliet, she felt the same.” Sie setzte sich auf seine Bettkante. Auch nach 20 Jahren Ehe mochte sie seine Verrücktheiten. „Du Spinner wirst das schon überleben. Was hast du denn da überhaupt für ein prähistorisches Thermometer ausgegraben?“, fragte sie und zog es unter seiner Achsel hervor. Sie schaute auf die Skala mit dem F. 102 zeigte sie an. In Celsius waren das gerade mal 39 Grad. Manchmal fand sie seine Verrücktheiten mehr als verschroben.

Sie klärte ihn auf. Dabei wischte sie ihm mit einem Schwamm den Schweiß von der Stirn. Und dann sangen sie zusammen weiter: „Now vou’ve listened to my story, here's the point that I have made: Cats were born to give chicks fever, be it Fahrenheit or centigrade.”

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