Fluch und Segen

10.5.2011, 00:00 Uhr
Fluch und Segen

© Scherer

Oh Gott, was für ein Thema! Wo soll man da anfangen, wo aufhören? Was ist ein Fluch, was ist ein Segen? Ich zermartere mir den Kopf nach einem echten Fluch, also nach etwas, das allem und jedem schädlich oder wenigstens lästig ist. Auf Anhieb fallen mir Mücken, Laubsauger und private Fernsehsender ein, aber kaum hab ich die drei notiert, bekomme ich meine Spontanschizophrenie, das passiert mir immer bei kniffligen Fragestellungen und es nervt enorm.

In diesem Fall hackt mein eines Ich mit voller Überzeugung das Wort „Mücken“ in die Tastatur, während das andere Ich ständig was von Vögeln, Fledermäusen und Bachforellen zu bedenken gibt — mein zweites Ich gibt ständig was zu bedenken, selbst wenn es hundemüde und von der Mücke im Schlafzimmer ebenso genervt ist wie Ich Nummer eins. Am Schluss haben wir beide kein Auge zugemacht, sind komplett zerstochen und die Mücke wird gegen Morgen trotz schlechten Gewissens doch noch gemeuchelt. Bei privaten Fernsehsendern gibt Ich zwei sofort Argumente wie den persönlichen Geschmack, Arbeitsplätze und freie Marktwirtschaft zu bedenken; klar, damit kann man heutzutage ja jeden Müll rechtfertigen. Und Laubsauger, wie sieht es mit Laubsaugern aus?

Ich zwei denkt lange nach — das ist ein gutes Zeichen, es scheint aber nur eine Frage der Zeit zu sein, bis es irgendeinen Trumpf aus dem Ärmel zieht, und prompt kommt der auch: „freier Markt und Arbeitsplätze in der Laubsaugerproduktion!“, trompetet Ich zwei und legt milde lächelnd nach, dass auch Senioren und Menschen mit Rückenproblemen ein Recht auf Spaß bei der Gartenarbeit hätten. Ich eins wird daraufhin kurzfristig von meinem Es überschwappt und bekommt einen Schreikrampf, der sich nur unter Zuhilfenahme eines schottischen Single Malts beruhigen lässt.

Ein Freund, dem ich kürzlich von meinen Spontanschizophrenien erzählte, meinte, ich solle mir deswegen keine Sorgen machen, in der Philosophie würde man diese Zustände ganz einfach nur dialektisches Denken nennen und andauernd zwischen Mückenmord und Mückenrettung hin- und hergerissen sein, im übertragenen Sinn natürlich. Na toll, nur was hilft mir das jetzt? Wie schreibe ich etwas zum Thema Fluch und Segen, ohne dabei ständig in zwei Hälften zu zerfallen und einen Malt nach dem anderen zu kippen?

Ich könnte systematisch vorgehen, zweispaltige Tabellen anlegen, die überschrieben sind mit Fluch und Segen, Gut und Böse oder Schwarz und Weiß und warten, bis einem meiner beiden Ichs die Argumente ausgehen oder wenigstens eines unter dem Tisch liegt. Aber ich weiß ganz genau, dass sich meine zwei Ichs schon bei der Frage, was auf welcher Seite stehen darf, wieder in die Wolle geraten würden. Ich könnte mich an irgendein Über-Ich wenden, den Papst, George W. Bush oder wenigstens Jürgen Trittin, die haben ja ziemlich eindeutige Vorstellungen über Fluch und Segen, Gut und Böse, Schwarz und Weiß respektive Grün und Nichtgrün.

Doch bei dieser Idee begehren plötzlich beide Ichs ganz energisch auf. Auch mein Es meldet sich immer lauter und quengelt, dass wir gefälligst auf die Relation zwischen Hirnschmalz und Honorar achten sollen, und dass Es endlich in die Sonne will, sollen doch die Leser dieser Kolumne gefälligst selbst mal dialektisch denken. Ich eins findet die Idee prima: „Sonne ist gut.“ Ich zwei gibt sofort die UV-Belastung und unseren fragwürdigen Arbeitsethos zu bedenken, bekommt aber von Es und Ich eins einen Sack über den Kopf gestülpt.

Kurz darauf sitzen wir alle glücklich in der Sonne: Ich eins und Es im T-Shirt, Ich zwei mit einem Sack über dem Kopf. Und gemeinsam demonstrieren wir eindrucksvoll, dass Goethes Götz von Berlichingen so gut wie immer den richtigen Spruch parat hat — nein, nicht den, an den Sie jetzt vielleicht denken. Wir meinen: Wo Licht ist, ist auch Schatten!