Folgen des Brexit: Viele Briten wollen deutschen Pass

29.11.2016, 06:00 Uhr
Im Juni entschieden sich die Briten für den Brexit - den Austritt aus der Europäischen Union.

© F.: Hayoung Jeon/dpa Im Juni entschieden sich die Briten für den Brexit - den Austritt aus der Europäischen Union.

Als sie 1968 heiratete und der Liebe wegen herzog – ein junger Mann aus dem Freundeskreis ihrer Brieffreundin hatte ihr Herz erobert – hätte Lyndall von Dewitz die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen können, zusätzlich zu ihrer britischen. Sie versäumte das damals und beließ es dabei, mit ihrem britischen Pass erst in Fürth und später im Landkreis zu leben. Bis zum 23. Juni 2016.

Genauso wie ihre Verwandten zuhause und "wie alle meine britischen Freunde hier" war die Engländerin schockiert, als feststand, dass die Mehrheit in Großbritannien für den Brexit, also für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hatte. "Ich hab nicht gedacht, dass das durchgeht", sagt die heute 73-Jährige, die als Dozentin an den Volkshochschulen in Fürth und Oberasbach tätig ist. Und genauso wie viele andere Briten in Deutschland handelte sie rasch: "Die, die sie nicht schon längst haben, kümmern sich jetzt um die deutsche Staatsbürgerschaft, weil wir überhaupt nicht wissen, was kommt."

"Das ist ganz auffällig"

Noch gilt für hier lebende Briten wie für alle EU-Bürger: Sie dürfen bei der Einbürgerung ihren ursprünglichen Pass behalten, haben also die doppelte Staatsbürgerschaft – und damit nichts zu verlieren, aber möglicherweise viel zu gewinnen. Denn noch weiß keiner, welche Regeln nach dem Brexit gelten, etwa wenn es ums Reisen oder die Arbeit gilt. "Am Anfang musste ich alle zwei Jahre meine Aufenthaltsgenehmigung verlängern, obwohl ich verheiratet war", erinnert sich von Dewitz. "Wer weiß, ob das wieder kommt." Außerdem wolle sie mit dem deutschen Pass zeigen, "dass ich doch noch Europäerin bin".

52 Prozent stimmten für den Brexit - seitdem bereitet Großbritannien den Austritt aus der EU vor.

52 Prozent stimmten für den Brexit - seitdem bereitet Großbritannien den Austritt aus der EU vor. © F.: Hayoung Jeon/dpa

Ob Stuttgart, Köln, Hamburg oder Fürth: In vielen deutschen Städten ist die Zahl der Briten, die die Einbürgerung beantragen, nach oben geschnellt. "Das ist ganz auffällig", sagt Felice Balletta, Leiter der Fürther Volkshochschule. Der Einbürgerungstest mit landeskundlichen Fragen, der neben einem Sprachtest bestanden werden muss, wird in Bayern von den Volkshochschulen durchgeführt. Früher waren im Jahr "zwei, drei Briten" unter den Bewerbern, erzählt Balletta. "Jetzt sind sie jedes Mal ein Drittel bis die Hälfte der Teilnehmer."

Viele Prüflinge sind Briten

Alle sechs Wochen bietet die VHS den Test an. Acht von 20 Prüflingen waren jüngst Briten. Nach Fürth und Nürnberg kommen auch Engländer, Schotten und Waliser aus anderen Ecken Bayerns, wenn die Prüfung vor Ort schon ausgebucht ist. Gerade bei gemischten Ehepaaren mit Kindern oder bei Briten in befristeten Arbeitsverhältnissen sei das Interesse groß, hat Balletta beobachtet.

Auch Victoria Hufmann (45), aus England und verheiratet mit einem Deutschen, hat inzwischen zwei Pässe. Und Sandra Scheffel (70) — schottische Wurzeln, deutscher Ehemann – hat im Februar ihren Termin im Bürgeramt.

"Wie mit Trump in Amerika"

Hufmann, die 1994 nach ihrem Studium nach Deutschland kam und hier im Verlagswesen tätig ist, hat den Einbürgerungstest bereits 2015 gemacht – vor allem, weil sie in dem Land, in dem sie lebt, endlich auch uneingeschränkt wählen können wollte. Damals sei aber auch schon abzusehen gewesen, dass das Referendum kommen würde. "Ich dachte, dann bin ich auf der sicheren Seite." Nicht wählen zu können, hat auch Sandra Scheffel "schon immer geärgert". Jetzt kam der Brexit hinzu – ein "Schock". Zumal "ganz Schottland" nicht raus wolle: "Das waren die Engländer, die uns das eingebrockt haben."

Vor allem ältere Engländer, präzisiert sie. "Die jungen waren am Boden zerstört." Es gibt offenbar viele, sagen Hufmann und Scheffel, die sich das alte, mächtige England zurückwünschen. Und "falschen Versprechungen" glauben. "Es ist wie mit Trump in Amerika", stellt Scheffel fest: "Wie Rechtspopulisten die Leute so verblenden können, ist beängstigend."

Hufmann vermutet, dass viele nicht verstanden haben, "was auf dem Spiel steht". Die Frage sei viel zu komplex, als dass man Menschen per Volksabstimmung entscheiden lassen könnte.

Mitverantwortlich für den Ausgang seien auch die britischen Medien: "Sie haben nie etwas Positives aus Brüssel berichtet. In Deutschland ist das ausgewogener." Der Brexit, Trump – es sei ein "komisches Jahr", sagt Hufmann. "Wir haben gelernt, dass eintreten kann, womit man nicht rechnet." Was wird noch kommen? Marine Le Pen in Frankreich? Und wie kann man Rechtspopulisten aufhalten? "Die Länder müssen schauen, dass sie diejenigen in Jobs bringen, die von der Globalisierung bisher nicht profitieren."

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