Gottbegnadet, teuflisch verstrickt

2.6.2019, 11:55 Uhr
Gottbegnadet, teuflisch verstrickt

© Foto: Schauspiel Graz/Lupo Spuma

Aber sein Mozart: herrlich, ganz herrlich. Mehr noch. "Es war der pure Mozart", weiß Mezzo-Legende Christa Ludwig zu berichten. Karl Böhm hieß der Mann mit der kurzen Leitung zum Salzburger und vielen anderen komponierenden Genies. In diesem Stück jedoch, das einem atemlos folgenden Fürther Publikum im ausverkauften Stadttheater 105 beglückende, hellsichtige, erschütternde Minuten beschert, ist höchste Vorsicht geboten. Mit Bombast-Vokabeln à la "Genie" und "Legende" hält es Nikolaus Habjan nämlich wie die Putzfrau mit dem Beuys-Fettfleck: Das kann weg.

Dass die hehre Klang-Kunst jene Jahre, die Schönredner als die dunklen und Idioten als "Fliegenschiss" bezeichnen, unversehrt überstand und zugleich als Vitamin C für die Generation Aufbruch taugte, gehört zu den Gründungsmythen der zweiten Republik Österreich. Alles wird gut, sagt etwa das Neujahrskonzert, ein global gefeiertes Ritual, das absurderweise die Bildsprache einer längst versunkenen, habsburgischen Epoche spricht.

Grantelnder Anti-Karajan

Böhm, den eh nur wenige Menschen lächelnd erlebten, stand nie am 1. Jänner am Pult, ein weltweit beklatschter Dirigierstar war der 1894 geborene Grazer gleichwohl. Keine großelterliche Klassik-Plattensammlung aus den fünfziger, sechziger Jahren kommt ohne Böhm-Scheibe aus. Karl Böhm, das war der bodenständige Grantler, der zwar kaum nahbarer schien als Jetset-Schönling Karajan, aber aller weltmännischer Attitüde abhold war. Genau der Richtige also für die Aufbruchjahre. Alles wurde gut. Vor allem für ihn.

Schon damals, schon früher. Und es wurde noch besser, als die Nationalsozialisten ihn in die wichtigsten Ämter verhalfen, die seinerzeit zu kriegen waren: Semperoper Dresden 1934, für die Kollege Fritz Busch über die Klinge springen und emigrieren musste, Staatsoper Wien 1943. Parteimitglied war Böhm nie, aber begeistert und intrigant genug, um unfallfrei auf der Karriereleiter zu klettern, bis hoch zur Gottbegnadeten-Liste. Kein Fronteinsatz wg. Berühmtsein.

Präzise und konzentriert

Auch Nikolaus Habjan (31) ist Grazer. Irgendwann ertrug er die kritiklose Verehrung, die seine Stadt dem Herrn Dr. Böhm noch immer entgegenbringt, nicht mehr. Aus Wut darf ja gern Theater werden. Paulus Hochgatterers "Böhm" ist trotzdem eher kritisches denn agitierendes Puppentheater. In diesem sagenhaft präzise und konzentriert servierten Solo gelingt Habjan das Schwierigste: eine Anklage, ohne ein Urteil zu fällen, eine Analyse ohne Schlussplädoyer. Um im Bild zu bleiben: Habjan verliest die Anklageschrift, die jahrzehntelang niemand verlas; wer richten mag, kann dies tun, jeder für sich.

Und tatsächlich, er ist es: Karl Böhm, an den Rollstuhl gefesselt, die absurd große Kastenbrille im verhärmten Gesicht. Den Puppenbauern Habjan und Marianne Meinl ist ein Wunder gelungen. "Gehen Sie weg, ich bin es nicht!", sagt Böhm/Habjan. Hochgatterers Kunstgriff besteht in der psychologischen Doppelung des Alten, der sich dem eigenen Ich, wenn es zu schmerzhaft wird, zu entwinden versucht und sich wenige, unendlich traurige Momente der Selbstreflexion erlaubt. Was er denn "ihn" fragen würde, wenn er "ihm" nochmals wie seinerzeit am Staatsopern-Bühneneingang begegnen würde. Fragen würde er, ob er die jüdischen Vorbesitzer jener 1943 bezogenen Wiener Villa kennt. Tja.

Das Zwiegespräch mit seinem 24-Stunden-Pfleger – der puppenlose Habjan – eröffnet Einblicke in die schaurige Charakterpalette dieses Mannes. Sarkast, Misanthrop, Besser- und Alleswisser. Und dann fliegt die vierte Wand hinfort, wir Musiker erleben Böhm (eine zweite, nun deutlich jüngere Puppe) bei der Probe, und es stimmt alles: der extrem unangenehme, auf jeden Fehler lauernde Arbeitston, der jeglichen Firlefanz meidende Dirigierstil. Groteske Szenen aus einer Zeit, da ein Orchester noch "meine Herren" hieß und der zweite Oboist gegen Dr. Böhm und die blanke Angst ankämpfte. Nicht wenige Zuschauer lachen, denn vorstellen kann und mag man sich das alles nicht mehr. Unter Böhm lachte niemand.

Über den Interpreten Böhm in "Böhm" kein Wort, hier gilt’s dem Opportunisten, dem Mitläufer, dem Egozentriker. Zum Gespräch gesellt sich die junge Schwester des Pflegers, die mit ihren schulkindlichen Ausführungen – eine der etwas plumperen Ideen des Stückes – zu Eskimos und Schwarzen den Alten allzu schnurgerade als Empathie-Verkrüppelten im symphonischen Elfenbeinturm überführt.

Interessanter wird die Sache, wenn in den szenischen Rückblenden Böhm sich schwadronierend – O-Töne, wohlgemerkt – um Kopf und Kragen redet. Es ist 2019, aber vor Scham im Sitz versinken möchte man noch immer. "Der Musik", sagt der Herr Dr. Böhm, "soll das Politische egal sein." "Ja, ich bin in der Partei. In der musikalischen Partei." "Ein Legato bleibt ein Legato", natürlich auch, wenn draußen jüdische Geschäfte brennen. 1954, kaum ist Wien besatzerfrei, kann er wieder an der Staatsoper loslegen. Da der glühende Nationalist nun großkariert tickt, endet die Ära zwei Jahre später mit dem fatalen Böhm-Satz, dass er für die Staatsoper nicht seine internationale Karriere zu opfern gedenke.

Rumäne mit Schmalztolle

Habjan macht das alles wunderbar, mit zig Dialekten, klugen Tempo- und Temperaturwechseln und mit Puppen, die auch schweigend noch beredsam sind. Er schaut auf Böhm ohne Revanchegelüste. Dennoch mutet das Stück Nichteingeweihten einiges zu. Wer etwa Karl Löbl ist, wer die Sänger Erna Berger und Paul Schöffler sind, das setzt Sattelfestigkeit im Fach Klassikwissen voraus. Bekannter ist da allenfalls Furtwänglers Berliner Nachfolger Celibidache; dessen Name genügt, und Böhm schnappt über vor Hass auf den "Rumänen mit der Schmalztolle". So viel Bitterkeit, so viel Eitelkeit.

Am Ende geht eine Büste zu Bruch, das Original steht im Grazer Theater. Und die stehenden Fürther Ovationen würden noch immer andauern, wenn der Vom-Sockel-Holer Nikolaus Habjan nicht gegangen wäre. Man kann "Böhm" als ungeschönten Blick auf einen widersprüchlichen Menschen und als Großparabel wider das aktive Mitläufertum deuten. Man hätte "Böhm", dessen Rückschau-Plot 1956 endet, auch fortführen und die nochmals in Schwung kommende Spätkarriere Böhms in den sechziger Jahren, ausgerechnet in Bayreuth, beleuchten können. Doch was zu sagen ist, sagen Habjan und Hochgatterer zweifellos auch so.

Doch was sagt das uns, jenseits der blau-braunen Donau, heute? Heute gibt es wieder einen Semperoper-Musikchef, einen, der rechten Corpsstudenten-Blättchen bereitwillig Interviews gibt. "Musik ist unpolitisch", sagt Christian Thielemann. Und: "Menschen aus dem Jahr 1945 wussten noch, was ein Burn-out wirklich bedeutet." Aber sein Wagner: herrlich, ganz herrlich.

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