Hirnforschung

10.7.2012, 10:00 Uhr
Hirnforschung

© Draminski

Es war laut in der Cafébar. Die Tische waren alle besetzt. Nur mit Drängeln hatten mein Freund und ich noch einen Stehplatz am Tresen bekommen. Mit Genuss schlürften wir den heißen Cappuccino. Um uns herum waren ähnliche Gestalten ähnlich beschäftigt. Manche unterhielten sich mit ihren Nachbarn. Einsame schwiegen den großen Wandspiegel hinter der Bar an, der unser aller Bild reflektierte. Eine Bar hinter der Bar, exakt gleich dekoriert, exakt mit den gleichen Leuten besetzt, denen man ihre Gedanken auch nicht ansehen konnte.

Mein Freund sah schlecht aus. Unrasiert, dunkle Augenringe, der Blick unstet. Irgendetwas musste passiert sein. Ich stellte meine Tasse ab. Mein Spiegel-Ich tat das auch, ohne zu zögern, zeitgleich.

„Hat sich Luise entschieden, dich zu verlassen“, wagte ich die worst-case-Frage.

„Ach, Luise“, kam es müde zurück. „Sie kann ja gar nichts entscheiden. Keiner von uns!“

„Du sprichst in Rätseln“, sagte ich. „Wir haben uns doch gerade für einen Cappuccino entschieden!“

Ja, ob ich denn die niederschmetternden Ergebnisse der Hirnforschung nicht mitbekommen hätte, platzte es jetzt aus ihm heraus. Testpersonen, mit Hirn- und Muskelmessgeräten versehen, hätten entscheiden sollen, wann sie die Hand heben wollten. Und immer, wenn sie signalisierten, diese Entscheidung getroffen zu haben, hätten die Messinstrumente gezeigt, dass das Hirn die Bewegung schon vorher eingeleitet hatte. Natürlich nur den Bruchteil einer Millisekunde vorher. Aber vorher.

„Unser Hirn handelt selbstständig“, sagte mein Freund, „und gaukelt uns unsere Selbstständigkeit nur vor. Es gibt keine Handelnden. Es gibt nur Handlungen.“ Und die seien eine Folge aus vorhergehenden Handlungen und so weiter und so fort. Konsequent zu Ende gedacht, gingen all unsere Handlungen Schritt für Schritt zurück bis zur ersten Amöbe oder so. Jedenfalls lebten wir nur in der Illusion, einen freien Willen zu haben.

Ich hob die rechte Hand leicht an und winkte meinem Spiegelbild zu, das mir von drüben ebenfalls zuwinkte. Ich musste lächeln. Ich auch. Wer bestimmte wen? Wenn mein Spiegel-Ich mit einem Bewusstsein um sich selbst ausgestattet wäre, würde es vermutlich denken, dass ich ihm alles nachmachte.

„Verstehst du“, sagte mein Freund, „die Gedanken sind frei. Völlig frei – von uns. Der Kampf zwischen Jekyll und Hide ist entschieden. Wenn wir keinen freien Willen haben, haben wir auch keine Verantwortung für unser Handeln!“ Und dabei goss er den Rest seines Cappuccinos mit einer fahrigen Geste einfach auf die Theke. Sein Spiegelbild tat das auch. Gottseidank hatte die Bedienung nichts davon mitbekommen. Die im Spiegel auch nicht. „Meinen Job habe ich gekündigt“, fuhr mein Freund mit flackerndem Blick fort. „Ich stehe jetzt frühestens mittags auf und frage dabei in mich hinein: Na, Hirn, was für Entscheidungen hast du für mich auf Lager? Was werde ich heute tun?“

Gestern, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, habe er Luise zum Beispiel einfach mal eine runtergehauen. Nur so. Während sie entsetzt in Tränen ausgebrochen sei, habe er in sich hineingehorcht, um die nächste Entscheidung vielleicht abfangen zu können. Aber auch dieser Versuch sei ja letztlich vorher schon von seinem Hirn eingeleitet worden. Er sei ja selber davon überrascht worden, dass er ihr gleich noch mal eine getachtelt hätte, „wohldosiert“, wie er fröhlicher werdend anmerkte.

Natürlich hätte ihn Luise daraufhin verlassen. Aber, habe er ihr dabei noch versucht zu erläutern, das sei nicht etwa ihre Entscheidung gewesen, sondern allenfalls eine Folge der Ohrfeigen, die wiederum die Folge seiner neu erwachten zwischenmenschlichen Experimentierlust gewesen seien, die aber keinesfalls er zu verantworten hätte usw., usw. Bei der Rückführung der Verantwortung auf besagte Amöbe sei sie schon im Hausflur gewesen und hätte vermutlich gar nicht mitgekriegt, wie lächerlich sie sich letztlich verhielt mit ihrer Flucht. „Von Selbstbestimmung“, schloss er seine Ausführungen, „keine Spur. Die ganze Emanzipation zum Teufel!“ Mit diesen Worten schüttete er den Inhalt der Zuckerdose in den Cappuccinosee auf der Theke und malte mit dem Zeigefinger ein Peace-Zeichen in die weißbraune Melange. Dann schlug er mit der flachen Hand hinein in sein süßes Kunstwerk, dass es nur so spritzte und verließ das Cafè mit schnellen Schritten.

Die Leute im nahen Umkreis waren konsterniert. Ich war sprachlos. Mein Spiegel-Ich auch. Ich starrte mich an.

Und dann, als ob das bisher Erlebte nicht schon ausgefallen genug gewesen wäre, geschah nach einer kleinen, reglosen Weile etwas ganz und gar Ungeheuerliches.

Mein Spiegelbild sprach zu mir, und ich hatte Mühe, den Lippenbewegungen so schnell zu folgen, dass es niemandem auffiel, dass unser Synchronismus nicht mehr von mir, sondern von meinem Gegenüber dominiert wurde. „Wahrscheinlich“, sagte ich da drüben, „ist es egal, wer von uns beiden verantwortlich ist. Wenn nicht jeder für sich, dann doch jeder für den anderen. Denn was ich tue, tust du, und was du tust, tue ich.“ Und ich dachte: Gott, komme ich mir da moralinsauer rüber. Nee, sind wir jetzt aber allgemeinplatzartig in der Lebensratgeberecke gelandet. Vielleicht hatte mich aber auch nur die anarchische Stimmung meines Freundes angesteckt.

Jedenfalls nahm ich die leere Zuckerdose vom Tresen und schleuderte sie mit voller Wucht hinein in den Barspiegel. Von dort sah ich die Dose auf mich zufliegen. Es war das Letzte, was ich sah. Beim Aufprall zersprang ich in tausend Scherben.



 

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