Hitlerjunge Max: Der bewegende Brief eines jungen Fürthers

11.5.2020, 07:36 Uhr
Hitlerjunge Max: Der bewegende Brief eines jungen Fürthers

© Foto: Archiv Gisela Otto-Distler

Meine lieben Eltern! Als Ostergeschenk kam heute Mutters lieber Brief vom 28.3. Gott sei Dank seid Ihr wenigstens noch am Leben. Ich habe mich ja schon auf das Schlimmste eingestellt. Ich konnte es gar nicht fassen, daß für mich auch mal Post da ist. Wenn man 3 Wochen Tag für Tag umsonst schmerzlichst darauf gewartet hat. Es liegt also doch nur an der Postverbindung. Der Brief war in 3 Tagen hier oben. Zu Euch brauchen meine Briefe über 14 Tage. Ich habe von hier aus bestimmt schon 15 Mal geschrieben. Und darunter viele ausführliche Briefe. (...) Wenn Ihr diese ganzen Briefe erhaltet, könnt Ihr Euch schon ein gutes Bild über meinen Alltag machen."

Max Graßl, der Brief datiert vom 1. April 1945, schreibt seinen Eltern aus einem "Wehrertüchtigungslager", das Jugendliche im Alter von 16 bis 17 Jahren auf den Militärdienst vorbereiten sollte. Die Ausbildung dauerte meist vier bis sechs Wochen. Die Einberufung erfolgte schriftlich, man war zur Teilnahme verpflichtet.

"Zuerst möchte ich mal zu Deinem Brief lb. Mutter Stellung nehmen. Das Veilchen hat mich recht gefreut, es kam Dir aus sehnsüchtigem Herzen lb. Mutter, das merke ich. (...) Ich freue mich schon darauf, mehr von Euch zu hören. Aber bis Ihr diesen Brief erhaltet, werde ich auch bald kommen u. dann bleibt er unbeantwortet. Schreibt jetzt nicht mehr. Höchstens nach einem Angriff eine Eilnachrichtenkarte. (...) Ich glaube ja nicht, daß wir die Amerikaner noch recht viel weiter reinlassen. Ein eisernes ,Halt‘ muß es auch mal geben, oder alles ist scheiße. Siegeszuversichtlich werden wir hier schon gehalten als die Soldaten von morgen. Wir sind ja hier auf der Gauschulungsburg Sachsen. Da wird man weltanschaulich schon auf Draht gehalten. Meine Stellungnahme dazu erzähle ich Euch daheim." (...)

Einquartiert ist Max auf Schloss Augustusburg, erbaut im 16. Jahrhundert am Nordrand des Erzgebirges. Chemnitz ist zwölf Kilometer entfernt. In den 1920er Jahren wurde im Schloss eine Jugendherberge eingerichtet. Die Nazis nutzten die weitläufige Anlage ab Juni 1933 für ihre Zwecke.

"Ich habe in diesen schönen Tagen viel an Euch u. den Garten gedacht. Daß Ruth so fleißig war, ist ja ganz schön, aber warum willst Du nach den Feiertagen umstechen? Hat Ruth eine Stellung bekommen oder was ist mit ihr? Bekommt Ihr kein anderes Pflichtjahrmädel? Wie das Umstechen geht, weißt Du doch auch Mutter u. vielleicht kann Vater das kleine Stückchen am Abend dann rechen. (...) Jedenfalls strenge Dich nicht so arg an lb. Mutter. (...) Das mit dem Bepflanzen müßt Ihr selbst wissen, da habe ich keinen Einblick. Ich bin über Eure fleißige Gartenarbeit voll zufrieden. (...) Vielleicht könnt Ihr um die Bohnenlaube Ringelblumen oder ähnliches pflanzen.

Die Hauptsache, daß ich bald zu Euch komme

Daß am 23.3. wieder ein Angriff auf Nürnberg war, hatte ich noch gar nicht gewußt. Das tut mir leid, daß Ihr Euch so abschleppen habt müssen und ich verblödele hier die Zeit. Nach Scheinen u. Abzeichen reiße ich mich nimmer, die Hauptsache, daß ich bald zu Euch komme. Meine Anschauungen habe ich schon gründlich geändert. Man lernt überall Gutes u. Schlechtes kennen, nun ist die Hauptsache, sich aus dem Guten wirklich Nutzen zu ziehen u. sich über das Schlechte sein Urteil zu machen. Ich bin in diesen 4 Wochen schon zäh geworden u. weiß was Hunger u. Entbehrungen sind. Es ist ja schön, daß Ihr wieder Hühnerfutter habt. Aber sorgt auch für Samenkartoffeln. (...) Nur nicht bange werden, mir ist es in den 4 Wochen, wenn ich an daheim dachte, auch schon mehr als bange geworden. Aber jetzt durch Deinen lb. Brief lb. Mutter bin ich schon wieder auf Draht. (...) Heini hat meinen Brief von hier aus sicher schon erhalten, wenn er schreibt, ich soll mich nicht vordrängen. Hier gibts kein Vordrängen, nur ein Muß. Die Verpflichtung die ich Euch gegenüber habe, ist mir voll bewußt u. ich will stets so handeln, daß ich jede Tat vor Euch verantworten kann." (...)

Max ist das vierte Kind von Johanna und Alfons Graßl, wohnhaft in der Hermann-Göring-Straße, heute Vacher Straße. Ihr ältester Sohn Ernst ist im Frühjahr 1945 bereits dreieinhalb Jahre tot, er fiel im Oktober 1941 in Russland. Max Graßls Tochter, Gisela Otto-Distler, bewahrt die Feldpost ihres Onkels auf. Ein ganzer Stapel. "Ich kann mich an Sonntagnachmittage erinnern, da hat uns mein Vater die Briefe seines Bruders vorgelesen", erzählt sie. "Er hat danach geweint. Das werde ich nie vergessen."

Hitlerjunge Max: Der bewegende Brief eines jungen Fürthers

© Foto: Archiv Gisela Otto-Distler

"Daß ich in Fleiß 1 bekam, wundert mich noch mehr als in Betragen. Das Zeugnis interessiert mich riesig. Das Geschichtsbuch hätte ich sehr gerne behalten, aber was der Schule gehört, kann man nicht zurückhalten. Schulbücher kannst Du hergeben mit Ausnahme des Englischen u. des Stenobuches. Hier möchte ich schon gerne einen Rückblick halten u. das alte Gelernte, wenn auch nicht gerade weiterbilden, so doch mindestens behalten. Das kann nie etwas schaden. Ich habe dann noch 3 oder 4 Bibliotheksbücher von der Schule daheim. Sag mal auf dem Direktorat, daß ich die selber abgebe, ich weiß ja am besten, wo das Zeug daheim steckt." (...)

Max Graßl hat die Handelsschule in der Tannenstraße besucht, den Vorläufer der heutigen Hans-Böckler-Realschule. Ob er einen Abschluss machen konnte, weiß seine Tochter nicht. Nur dass er quasi von der Schulbank weg ins Lager eingezogen wurde.

"So nun habe ich mal Satz für Satz Deines Briefes beantwortet. Jetzt will ich übergehen, über mich zu schreiben. (...) Ich habe mich dem 6. Kriegsjahr angepaßt. Mit dem Essen bin ich jetzt schon gewöhnt, ich werde aber wieder tüchtig essen müssen, um mein Körpergewicht von 50 kg wieder einigermaßen aufzufrischen. Bei der Musterung am 22.3., also nach 3 Wochen hatte ich schon 47 kg. Daß ich in den 2. drei Wochen nochmals 6 Pfund abnehme, glaube ich nicht, das war nur in der Zeit der Umstellung. Wie das heutige Abendessen 4 Stücken Brot, etwas Wurst + Butter. Praktisch gedacht sehr wenig, aber wir sind dafür dankbar. (...) Jetzt wo ich der ernsten Sorge um Euch durch die Fliegerangriffe enthoben bin, gefällt es mir hier richtig. Vorher war man immer unruhig. Aber bald wird die Sorge mit der Kriegslage im Westen wieder auftauchen. Man muß hier ganz hart gegen sich selbst werden u. stur abwarten können. Seitdem wir die neuen Ausbilder haben ist ein anderer Schwung dahinter und wir sind schon ein zackiger Haufen geworden. (...) Als Kameradschaftsführer haben wir einen 21jährigen Uffz., der in seinem Körperbau u. seinem Wesen viel unserem Ernst gleicht. Er macht auch alles so nach Minuten u. ist überall stramm dahinter. Aber im Gelände & im Wald da zeigt sich sein Gemüt, da pfeift u. singt er mit uns, jedenfalls in Ordnung. Unser Scharführer ist ein schwerverwundeter Uffz., der nur am Stecken knappen kann. Er hat etwas überreizte Nerven u. brüllt für 3. Aber unsere Schar ist hier jedenfalls die Beste im Lager u. das haben wir nur diesen Ausbildern zu verdanken. (...) Am Gründonnerstag hatten wir ein Nachtgeländespiel von 19.00 - 21.00 Uhr. Ich bekam dabei auch das Gesicht blaugehauen, das schadet nichts. Erzählen kann man das alles besser als schreiben.

Tarnung und Sport am Karfreitag

Dann am Karfreitag hatten wir Tarnung u. Sport. Handgranatenweitwurf 30 m Bedingung, mit 30 m 2 x erfüllt. Zielwurf auf 22 m Entfernung 3 Treffer Bedingung, mit 5 Treffer auf 5 Wurf erfüllt. Den Weitsprung von 4 m in Dienstkleidung mit den schweren Schuhen schaffe ich allerdings nicht. Am Nachmittag hatten wir dann Schießen. Liegend aufgelegt 5 Schuß 25 Ringe erfüllte ich diesmal mit genau 25 Ringe. Liegend freihändig brachte ich nur 16 zusammen."

Kurz vor Kriegsende, wann und wo genau ist unklar, muss Max das Gelernte anwenden. Mit Handgranaten und Panzerfäusten ausgerüstet, schießen er und seine Volkssturmkameraden einen feindlichen Panzer ab. Er geht in Flammen auf, die Opfer darin schreien. Gisela Otto-Distler erfährt davon erst wenige Jahre vor dem Tod des Vaters. "Diese Begebenheit hat er tief in sich verschlossen und bis zu dem Moment, da wir zusammensaßen, niemandem erzählt", sagt sie. "Die Geschichte war sein Trauma, sie hat ihn bis zum Schluss verfolgt."

Hitlerjunge Max: Der bewegende Brief eines jungen Fürthers

© Archiv Gisela Otto-Distler

"Dann bekam ich die letzte Woche (vom Mittwoch an) Hals-, Ohren- u. Kopfschmerzen. Ich bekam vom Sanitäter zum Gurgeln Mallebrin u. Tabletten für die Schmerzen. Das Mallebrin ist ein prima Mittel u. schaffte jedesmal fühlbare Erleichterung; konnte aber eine kleine Halsentzündung nicht aufhalten. So durfte ich gestern 1 Tag in das Bett, mußte mir alle 2 Stunden mit dem halben Handtuch einen Halswickel machen, was mir sehr gut tat. Heute machte ich zur Schonung einen halben Tag Innendienst. Nachmittags hatten wir mit dem Uffz. Ausgang. Wir wanderten durch die schöne Natur u. kehrten in einem Gasthaus ein, wo wir zechfrei gehalten wurden. Jeder bekam 2 Glas schwarzes Süßbier. Bis 5 Uhr waren wir wieder daheim. Mit dem Hals ist es schon wieder so ziemlich in Ordnung. Nur keine Befürchtung oder Sorgen deshalb. Wesentlich ist mir nur, dass ich am 17.4. bestimmt heimfahren darf. (...)

Jetzt ist unser Lagerleiter auf Dienstreise u. wenn er wieder zurückkommt, entscheidet sich viel. Bei den bisherigen 2 Musterungen wurde ich wegen den Ohren jedesmal bedingt KV u. ungeeignet für die Waffen SS. Wahrscheinlich werden sie am 17.4. entlassen (die bed. KV sind) und die KV Leute müssen noch 4 Wochen dableiben. Eine Möglichkeit. Die andere ist, daß wir alle entlassen werden u. die KV-Leute dann von daheim weg sofort eingezogen werden. Mich können sie zu keiner Elitedivision stecken. Da kommen nur die kräftigsten u. auch die gesündesten dazu. Da haben sie im Reich schon genügend Auswahl." (...)

Kv: kriegsverwendbar. Während die Heißsporne sich dieses Musterungsergebnis herbeisehnten, fürchteten andere es wie den Teufel. "Zum Glück war mein Vater so untergewichtig, sonst hätte man ihn vielleicht doch zur Waffen-SS geholt", sagt Gisela Otto-Distler heute.

Mit der Wäsche gehe ich äußerst sparsam um

"Nun daß Du siehst lb. Mutter, daß ich mit der Wäsche äußerst sparsam umgehe, schreibe ich Dir, was ich an Wäsche bisher verbraucht habe. In 3 Wochen: 1 Unterhose, 1 Hemd, 3 Taschentücher. Jetzt habe ich die 2. Unterhose schon wieder 1 Woche (2. Hemd) an. Das 4. Taschentuch in Benützung. Daß ich natürlich alles bis ins Letzte ausnütze ist klar. Wenn wir wirklich länger dableiben müßten, bräuchtet Ihr mir keine Wäsche zu schicken u. wenn wir am 17.4. fahren, ziehe ich für die Heimfahrt die neue Wäsche an. Das 1. Handtuch habe ich gestern abend rausgewaschen u. vor das Fenster gehängt, heute früh war es schon trocken. Also auch in dieser Beziehung braucht Ihr keinerlei Sorge zu haben.


Kommentar: Warum wir uns an den 8. Mai 1945 erinnern sollten


(...) Wie sind Onkel Hans + Durrmanns bei den Angriffen weggekommen? Entschuldigt bitte Schrift u. Fehler, hier muß es ja immer schnell gehen. Ich habe Euch heute wieder einen Brief hergehaut, daran könnt Ihr schön ein Stückchen lesen. (...)

So nun recht herzlichen Gruß an alle von Eurem dankb. Max!"

Max Graßl überlebt den Krieg. Er macht eine Lehre, heiratet, wird Vater dreier Kinder und arbeitet über 30 Jahre für die Fürther Firma Büromaschinen Beck. Er engagiert sich bei den katholischen Pfadfindern, der Caritas und in der Kirche. Kraft zieht er stets aus seinem Schrebergarten in der Anlage am Kieselbühl. Er stirbt im Mai 2003 im Alter von 74 Jahren. Seine Witwe Elisabeth lebt heute, 88-jährig, auf der Hardhöhe. Max Graßl hat fünf Enkelkinder und ein Urenkelchen. Seine Tochter Gisela Otto-Distler ist sich sicher: "Dass dieser Brief in der Zeitung erscheint, hätte meinem Vater gefallen." 75 Jahre, nachdem er ihn geschrieben hatte.

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