Höhlen

2.9.2014, 09:22 Uhr
Unterwegs im Bauch des Wals: Fritz Schnetzer.

© Hans Winckler Unterwegs im Bauch des Wals: Fritz Schnetzer.

In den Pfingsttagen dieses Jahres habe ich erregt und gerührt die Rettungsaktion für den verunglückten Höhlenforscher Johann Westhauser miterlebt. In mehr als 1000 Metern Tiefe lag dort ein einsamer Mann, klein wie ein Embryo im Vergleich zu der unheimlichen Tiefe des Berges, im Grunde verloren. Die großen Räume im Bauch des Berges, Schlünde, Schächte, Wasserfälle, Seen. Unterirdische Säle. Kathedralen des Abgründigen.

Und in diese Unterwelten wagten sich Dutzende, nein Hunderte von hilfsbereiten Männern und Frauen, eine grenzüberschreitende Armada der Selbstlosigkeit, Gemeinschaft der Heilenden, ausgestattet mit den besten Finessen der Technik.

Verloren? Nicht verloren? Auf jeden Fall erschöpft. Verfroren. Angstfrei sicher auch nicht, in Sorge wohl nicht nur um den Verunglückten. Und sie holten ihn heraus, der Berg spuckte ihn aus, ließ den Eingriff zu. Der Berg polterte nicht, drohte nicht erneut mit Steinschlag.

Ein erneuter Punktsieg der Technik über die Natur.

Als ich die großen Höhlen sah und die Schächte – im Fernsehen, aus sicherer Distanz – spürte ich doch Platzangst. Beklommenheit.

Ich sah mich wieder als kleinen Steppke, als Grundschüler, auf dem großen, mit Kastanien bewachsenen Schulhof der Luitpoldschule in Bayreuth.

Wir standen klassenweise auf dem Hof und es fuhr ein riesiger Lastwagen vor, ein militärisch anmutendes Fahrzeug zum Transport von Geschützen. Nur lag oder stand darauf keine Kanone, sondern wir sahen darauf einen gewaltigen, lang gestreckten Berg, einen Sandhaufen? – abgedeckt von einer grauen, Regenplane. Aber unter dieser Plane ragte eine sehr große, gekerbte Schwanzflosse hervor. Ein Fisch? Sollte es so große Fische geben?

Und dann war der Truck zum Stehen gekommen und schnelle Arbeiter klappten eine Rampe herunter, lösten die Vertäuungen, ließen die Plane seitlich herab gleiten. Und dann sahen wir es. Was da auf dem LKW lag und sich nicht regte, was die Tiefen der Meere ausgelotet hatte mit den allerfeinsten Echowellen.

Ein Wal. Ein gewaltiger, gut zwanzig Meter langer Blauwal. Der hintere Teil des Riesendings allerdings mit der sehr großen Schwanzflosse, die uns Neugierigen vorher allerdings schon einen Hinweis hatte geben können, war halb abgetrennt, der Leib eine klaffende Wunde. Ausgeräumt der Körper, auch keine Schwimmblase war zu sehen, die uns besonders interessiert hätte. Wie groß das alles war! Ausgeräumt und imprägniert, um den Verwesungsprozess zu stoppen. Es roch alles so fremdartig, nach Anatomie, nach Formalin, nach Teer? Aber das wusste ich damals noch nicht.

Ich fühlte mich so klein, und der Wal war so groß.

Es war zum Weinen, aber ich weinte nicht. Achtunddreißig Andere standen neben mir, und ein jeder versuchte auf seine Art Haltung zu bewahren. Das Wort „Cool“ kannten wir damals nicht, doch unser Staunen: „Ach toll. Wie schnell der wohl schwimmt? Spinnst du? Der schwimmt doch nimmer“ sollte eine gewisse, ganz kleine Form von Abgeklärtsein ausdrücken. Manche aber fassten vorsichtig nach der Hand des Nachbarn.

Klassenweise durften wir, aber wir mussten nicht, die herunter- geklappte Rampe des Lastwagens betreten, und wir konnten endlich einen vorsichtigen Blick in das Innere des Wales werfen.

Schaudernd standen wir vor dem Eingang.

Walrippen wie kunstvoll bearbeitete Steine neigten sich zueinander und ergaben die Portale einer Grabkapelle. Die Stoßzähne eines Elefantenbullen kannte ich bereits. Aber diese Rippen — so lang wie sechs, acht Stoßzähne? Schimmerndes Elfenbein.

Ob Jonas wohl bei seiner Rettung denselben Weg genommen haben mochte?

„Natürlich nicht“, meinte ein aufgeklärter Klassenkamerad, „dieses Loch da ist durch eine irre große Motorsäge entstanden. Die haben so was auf den Walfangschiffen!“ erzählte er aufgeregt, und er hätte wohl nicht mehr aufgehört zu reden, wenn ihn Fräulein Griesbauer, unsere Lehrerin, nicht zum Schweigen gebracht hätte. „Psst“, ein Finger vor ihrem Mund – denn wir fanden sie alle schön und wir waren alle mit unseren Kleinbubenherzen in sie verliebt, ein „Psst“ genügte. Damals.

Nein, Jonas ist im riesigen Maul verschwunden, durch den Vorhang der Barten geschlüpft, aus denen man die Korsettstäbe machen konnte, die meine Großmutter in ihrem fleischfarbenen Mieder trug. Ich hatte sie einmal beobachtet beim Anziehen. Die Bändigung der Natur. Ja, die Welt ist geheimnisvoll.

Jonas schlüpfte durch diesen geheimnisvollen Vorhang aus Fischbein, das wie Elfen im Mondlicht silbrig weiß glänzt – dann hat Jonas die dünnen Barten wie festes Lametta beiseite geschoben und dann befand er sich wie hinter einer Bühne am Eingang des Schlundes. Er rutschte hindurch, er rutschte hinab, und wo war er? In dieser riesigen Bauchhöhle.

„Ein besonderer Aufenthaltsort“, befanden wir lange später, als wir unseren ersten Schrecken, oder Furcht, war es „Ehrfurcht“? überwunden hatten. Wir wussten auch lange nicht: War es die „Bauchhöhle“ oder die „Bauchhölle“, in die wir da geblickt hatten. In der Rechtschreibung waren wir damals noch nicht sicher — manche von uns noch heute –, aber beide Schreibweisen trafen wohl zu, denn das Richtige liegt immer im Auge des Betrachters.

Mich hatte das Auge besonders getroffen, das Walfischauge, geöffnet und groß und matt wie ein Seerosenteich, in dem alles Leben erloschen ist. Die verwelkten Blätter wie Schlieren in einem Glasauge.

„Und warum ist der Jonas eigentlich nicht erstickt, dort unten in diesem Leib?“ Wir staunten und fragten unserer Lehrerin Löcher in den Bauch.

„Taucht er nicht immer wieder auf und bläst seine Fontänen? Ist dann nicht genügend Luft im Leib zum Überleben?“

„Und das Fett, der Tran, der Lebertran, den wir löffelweise jeden Tag gleich nach dem Morgengebet zu uns nehmen mussten – hat er dem Jonas dort drin auch als Nahrung gedient?“ Wir schüttelten uns und würgten demonstrativ, aber das wollten wir wissen. Eine Albtraummedizin gegen krumme Knochen – damit unsere Knochen nicht einmal so aussehen werden wie diese großen Waltierrippen.

„Machet auf das Tor, es kommt ein gold’ner Wagen“, und dann dachte ich auf einmal, ich würde durch dieses Erlebnisparadies abwechselnd bald in den Himmel, bald in die Hölle fahren.

„Himmel und Hölle“, die Mädchen meiner Klasse sprangen so grazil zwischen beiden Sphären herum und klatschten sich dann fröhlich ab — war da nicht beides gleich hell, gleich feurig erleuchtet, wenn die Sonne darauf schien? Und der Schatten, wo lag da der Unterschied?

Dieses große Tier, neben dem oder vor dem wir gar so klein waren, das beschäftigte uns. Ist so ein Wal so lieb wie ein freundlicher Bernhardiner oder ist er bösartig?

Moby Dick lag uns im Ohr, der weiße Wal, von dem uns ein Lehrer später erzählt hatte. War der Kapitän nun verrückt oder war es der Wal?

Zwei Fraktionen bildeten sich und standen sich fast feindselig ratlos gegenüber. Tierfreunde und Techniker. „Musste der arme Wal sehr leiden, als ihn die Harpune traf?“ oder „Gab es viel Blut zu sehen?“ Manche lechzten nach Blut. Andere schüttelten sich erneut und riefen verzweifelt, das wollten sie nicht wissen. Der arme, arme Wal.

Es wurde ein turbulenter Vormittag.

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