Im Dickicht der graffitibeschmierten Schallschutzwände

15.10.2018, 12:00 Uhr
Im Dickicht der graffitibeschmierten Schallschutzwände

© Foto: Markus Kohler

Die magische 200: Kann man Fürth, seine Aura, sein Flair, sein Unverwechselbares in gerade mal 200 Zeilen einfangen? Das kommt darauf an, wie lang die Zeile ist. Das Finale des Schreibwettbewerbs bot ein hochinteressantes Gemisch aus Text und Musik, aus nüchterner Schilderung und lasziver Verführung. Sehr viel fehlte jedenfalls nicht, und das eigentlich "nur" zur Auflockerung aufspielende Sunday Morning Orchestra hätte den Literatinnen und Literaten glatt die Schau gestohlen.

Wobei der Ausdruck "Orchestra" grandiose Hochstapelei ist. Kontrabassist Oliver Zoglauer und Sängerin Maleen Schulz-Kallenbach, ließen Standards wie "Fever" und "Jungle" wiedererstehen. Da glaubte sich der Zuhörer nicht in der Bibliothek hoch über der Kärwa, sondern in der tropischen Schwüle verrauchter Jazzkeller. Gerade die Kombination aus Bassbrummen und modulierender Stimme, die zwischen emotionalem Ausbruch und kühlem Beinahe-Sprechgesang irrlichtert, macht den Reiz dieses Duos aus.

38 Texte waren bei den Auftraggebern eingetrudelt; eine Jury verknappte die Liste der Beiträge auf die besten zehn, die im November im Verlag "Antho? - Logisch!" des Fürthers Marco Frohberger als Sammelband erscheinen sollen. Drei Autoren wiederum trugen nun ihren 200-Zeilen-Stoff vor Publikum vor — jene drei, denen die Juroren — neben Frohberger Krimi-Fachmann Veit Bronnenmeyer, Stadtpressesprecherin Susanne Kramer und FN-Kulturredakteur Matthias Boll — zuvor die höchsten Punktzahlen gegeben hatten. Über den Sieger entschied das Auditorium.

Joachim Lüdtke tauchte tief in die Fürther Vergangenheit, noch tiefer als "Dreizehntausend Jahre", so der Titel seiner Erzählung. Das erlebende Ich beamt sich mittels Gustavstraßen-Gerstensaft in die Epochen des Jura, des Mittelalters, des Dreißigjährigen Krieges und des Dritten Reichs. Wobei die drei wichtigsten Protagonisten in wechselnder Gestalt aufs Neue zusammentreffen. Wäre ein guter Plot für einen Fantasyroman, hat als Kurzgeschichte jedoch Längen.

Thomas Mann lässt in "Lotte in Weimar" Fiktion und Alltagsrealität aufeinander krachen. Er schildert einen Besuch der einstigen Werther-Angebeteten beim alternden Goethe. Vorbei die Jugend, dahin die Leidenschaft. Ähnliches mag der in Fürth aufgewachsenen, in Hamburg lebenden Susanne Neuffer vorgeschwebt haben, wenn sie in "Sandstein" einen einst berühmten, im Text namenlosen Autor — Jakob Wassermann — zu einer Vorlesung in seine Heimatstadt eintreffen lässt. Fürth als ungeliebter Herkunftsort, als Kulisse für Nazi-Machthaber, opportunistisches Kleinbürgertum und verunsicherte jüdische Intellektuelle, die glauben, auch diese Regierung zu überstehen — ein ziemlich bitterer Blick auf die Kleeblattstadt und auf den Besucher als Außenseiter.

Robert Wolfgang Segel, Teil des Fürther Schreiberduos "Die Schaffenskrise", setzt mit seinem überraschend kurzen Text "So nah" das Ausrufezeichen. In knappen, aber ungemein dichten Sätzen schildert er die Heimkehr einer verlorenen Tochter zu ihren Eltern, verdeckt er die Aussicht aufs Fürther Panorama durch mit Graffiti beschmierte Schallschutzwände und skizziert doch so trefflich die heimelig-triste Atmosphäre der Vororte. Willkommen in der Gegenwart!

Das Applausometer von Jubiläums-Projektleiter und Moderator Walter Landgraf misst den Beifall der Zuhörer und konzediert Segel den Publikumspreis, natürlich dotiert mit 200 Euro, zu. Geht in Ordnung. Ob nicht aber das Sunday Morning Orchestra noch an Segel vorbeigezogen wäre?

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