Im Sautrog auf hoher See

4.2.2011, 12:00 Uhr
Im Sautrog auf hoher See

© Hans-Joachim Winckler

Das spitzgiebelige Haus gleich beim Minigolfplatz ist Richard Jägers Geburtshaus. Hier kam der frühere Landwirt, Gemüsehändler und Berufskraftfahrer im Mai 1938 zur Welt, hier lebt er mit seiner Frau noch immer. An diesem Tag ist ein Freund aus Kindertagen zu Besuch: Günter Hessel, ebenfalls 72 und vor seinem Ruhestand in der Lebensmittelbranche tätig, hat als Kind um die Ecke gewohnt. Graue Haare haben sie bekommen, die Jugendfreunde, aber wie sie da sitzen, einander gegenüber am großen Esstisch in Jägers Stube, die Köpfe beugen über vergilbte Fotos mit gezackten Rändern und sich gegenseitig befeuern mit Erinnerungsschnipseln, sieht man die zwei Lausbuben vor sich, die sie wohl waren.

Im Sautrog auf hoher See

Hessel zeigt auf eines der Fotos. Es stammt aus dem Jahr 1944. Zu sehen ist Jägers Geburtshaus, das aus dem 16. Jahrhundert stammen und dessen Name daher kommen soll, dass für die Wiese, auf der es gebaut wurde, einst ein Jahreszins von sechs Batzen zu entrichten war. Auf dem Bild sieht es aus, als stünde das Haus — es war damals ein Bauernhof — direkt an einem See. Und über den schippern, aufrecht stehend, zwei Buben in einem Holzkahn.

„Piraten war’ mer“

Günter Hessel setzt die Brille ab und lacht. „Mensch Richard, da war’ mer Kapitäne auf hoher See.“ „Piraten“, dröhnt Jäger vergnügt zurück, „Piraten war’ mer, und ich war der Kapitän.“ „Der mit der Strickmütz’n, der Größere, is der Richard“, tönt es von Hessels Seite. „Ich hab die Schirmmütz’n auf.“ Knapp sechs Jahre waren die Männer alt, als die Aufnahme entstand. Das wissen sie genau. Und auch ihren Kahn können sie im Detail beschreiben: „Ein Sautrog war’s, und damit er im Wasser net kippt, hat mei Vater die alte Stalltür drunter g’nagelt“, berichtet Jäger. Und Hessel ergänzt, mit Bohnenstangen und Besenstielen hätten sie ihr Schiff durchs Wasser gestakt.

Zwei Pegnitz-Hochwasser pro Jahr waren normal, erklären beide, ehe in Nürnberg ein Hochwasserstollen und der Wöhrder See als Rückhaltebecken entstanden. Bis in die 50er Jahre sei die Pegnitz regelmäßig im Frühjahr und im Sommer über die Ufer getreten. Das Flussbett befand sich damals jenseits des Wiesengrunds, am Rand der Altstadt. „Länger g’halten hat sich das Wasser in den Dell’n im Gelände, da hat niemand Angst g’habt, dass uns Kinder der Fluss fortreißen könnt’“, sagt Jäger.

Wenn das Wasser an Schultagen bis ans Haus reichte, spannte sich sein Vater vor einen Leiterwagen mit Gummirädern. „Dann hat er mich und mei Schwester soweit zur Ludwigsbrück’n naufzog’n, bis das Wasser hinter uns war.“ Die Kinder stiegen ab und liefen in die Pestalozzi-Schule.

Seinem fünfjährigen Enkel Marc hat Günter Hessel die alten Fotos auch gezeigt. „Opa, gehn wir dahin?“, wollte der Kleine aufgeregt wissen. Hessel lächelt wehmütig, und er seufzt: „Wir ham zwar den Krieg erlebt, trotzdem möcht ich mit den Kindern heut’ net tauschen. Die ham ihre Bad’wanna mit Bootle drin, aber wir, wir waren frei. Wir sin früh in unsere Holzklapperer g’schlupft und raus. Und wenn im Sommer Hochwasser war, hammer drin rumplanscht, die ganze Kinderschlass’n aus der Nachbarschaft, und manchmal — Richard, wassd des noch? — hat’s zappelt. Das waren Karpfen und Hechte, die’s im obern Pegnitztal aus ihre Weiher g’spült hat. Dei Vater hat’s dann rauszog’n, die Fisch...“