In den Wind geschrieben

3.7.2012, 12:00 Uhr
In den Wind geschrieben

© Winckler

Was sollte diese E-Mail, was hatte sich ihre Schwester dabei gedacht? Hatte sie überhaupt etwas gedacht? Blicklos stürmte Maja durch den Wald, die Fäuste tief in den Taschen vergraben. Sie brauchte Luft, Bewegung. „Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“, hatte Wittgenstein gefordert. So war es, genau so und nicht anders. Doch schweigen hatte ihre Schwester auch nicht können.

Also hatte sie eine Mail geschrieben, voller Vorwürfe und Anklagen, schroff und unversöhnlich im Ton. Aus heiterem Himmel. Nein, nicht ganz.

Maja hatte Evi gefragt, was sie habe, arglos, aber schon aus so einem komischen Gefühl heraus, das sich immer mehr verdichtet hatte, je weniger die Schwester von sich hören ließ. Evi hatte eine Zeitlang alle möglichen Ausflüchte gebraucht, dann kam diese Mail. Eine Abrechnung, die Jahre umfasste. Wie Maja sie bei einem ewig zurückliegenden Fest vor den Kopf gestoßen, bei anderer Gelegenheit übergangen und wieder anderer gekränkt und gedemütigt habe. Sie endete damit, Maja solle bloß nicht glauben, Evi würde auch nur einen Finger krumm machen, wenn sie Hilfe brauche. Sie sei zwar gutmütig, aber nicht blöd.

Im Vorbeilaufen schlug Maja mit der Faust hart gegen einen Baum. Sie fühlte sich, als habe man ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen, sie auf die Straße gesetzt, nein, gestoßen. Ohne dass sie sich etwas zu Schulden kommen lassen hatte.

Evi hatte sie doch nicht mehr alle. Zum Teufel, warum hatte sie all die Jahre nichts gesagt? Feige war sie auch. Schreiben, was sollte das? Sollte Maja etwa zwischen den Zeilen lesen? Abrupt blieb sie stehen. Sie war, ohne es zu merken, an dem moschen Steg angelangt, der über den Bach im Talgrund führte. Vorsichtig schritt sie über die halb vermoderten Bohlen. Zwischen den Zeilen. Da konnte sie ebenso gut im fließenden Wasser lesen, im Wind, in Birkenrinde und Vogelstimmen. Wenn Evi nicht ihre Schwester wäre...

Schlaf eine Nacht drüber, dachte sie. Such nach den richtigen Worten. Sprich von deinen Gefühlen. „Ich hab’ das Gefühl, du hast sie nicht mehr alle.“ Sie lachte unfroh.

Sie musste und wollte auf diese unglaubliche Mail reagieren. Sie wollte ihren Standpunkt klären. Sie wollte, dass die Botschaft ankam. Sie wollte eine Axt nehmen und alles kurz und klein schlagen. Alle Brücken abbrechen und die Reste in Brand stecken.

Maja spürte, wie der Zorn ihren Puls beschleunigte, ihre Schritte beflügelte. Zorn war eine machtvolle Energie. Sie ließ sich davon berauschen, fühlte sich stark und unverwundbar. Warum sollte sie sich mit Evi auseinandersetzen, wozu sollte sie sich das antun? Die Feindseligkeit, die ihr aus Evis unsäglicher Mail entgegenschlug, drehte ihr den Magen um. Unverwundbar? Offenbar war der Magen ihre Achillesferse.

Sie blieb stehen, um Atem zu schöpfen, und lehnte sich an eine Eiche. Und wenn schon, las sie mit den Fingerspitzen aus der Rinde. Was war so unerträglich daran, dass die Schwester sich über sie aufregte? Hehe, keckerten die Waldvögel, du kannst manchmal auch ganz schön giftig sein. Überleg mal, was schlimmer ist, knurrte eine knorrige Wurzel, andere vor den Kopf zu stoßen oder selbst vor den Kopf gestoßen zu werden? Saug einfach alles auf, wisperte es aus dem Moos, die Feindseligkeiten, die Vorwürfe, saug sie auf und verwandle sie in Stärke.

Am Ende schrieb Maja: Lass mich in Frieden, Evi, verpiss dich. Sie schrieb es in den Wind, dann ging sie nach Hause. Vielleicht würde sie zum Telefon greifen, irgendwann, wenn der Rausch des Zornes nachließ.

Ein Freund hatte ihr mal von einer Auseinandersetzung erzählt, die fast einem Ritual glich: Man saß sich dabei am Lagerfeuer gegenüber, und wenn einer etwas gesagt hatte, musste der andere eine Viertelstunde warten, ehe er etwas entgegnen durfte. Und umgekehrt. Eine Viertelstunde sei lang, hatte der Freund versichert, man habe reichlich Zeit, alle Phasen der Wut, Rechtfertigung und Gegenvorwürfe zu durchlaufen und überlege sehr genau, was man erwidern wolle. Maja versuchte sich vorzustellen, sie säße Evi am Lagerfeuer gegenüber. Und beide müssten schweigen. Es fiel ihr schwer. Aber vielleicht war es einen Versuch wert. Egal, was am Ende herauskam, dachte sie, es würde sie stärker machen.


 

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