Kein Verlass auf Wunder

6.3.2012, 09:10 Uhr
Kein Verlass auf Wunder

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Pauline kramte in ihren Taschen. Ihre Finger ertasteten Münzen. Sie sah auf den Mann, der auf dem Gehsteig saß. Er sah sehr arm aus. Seine Kleidung war schmutzig und sein Bart war verfilzt. Sie beobachtete ihn verstohlen. So hatte sie sich immer das Männchen aus dem Märchen vorgestellt; das, das dem Dummling die goldene Gans gegeben hat, weil der mit ihm sein Brot teilte. Vielleicht war er ja das Männchen, vielleicht sollte sie ihr Taschengeld mit ihm teilen und er würde ihr helfen. Wieder fühlte sie die Münzen in ihrer Hosentasche und wusste nicht, ob sie es wagen sollte.

Sie war von zu Hause weggelaufen, weil sie es nicht mehr ausgehalten hatte. Ihre Eltern hatten unten im Wohnzimmer angefangen zu streiten. Sie war in ihrem Zimmer über ihrem Märchenbuch gesessen und sie hatte nicht verstanden worum es ging. Die Mutter hatte geschrien und der Vater war nur sehr leise zu hören gewesen. Pauline hatte sich die Ohren zugehalten und in ihr Buch gestarrt.

Ihre Eltern stritten sich oft und sie hatte dann meistens Angst. Meistens half es ihr, wenn sie eine Hörspielkassette mit ihren Lieblingsmärchen anmachte, ganz laut. Dann starrte sie auf Aschenputtel und Hänsel und Gretel, die Papa ihr an die Wand gemalt hatte. Manchmal glaubte sie die Figuren zwinkerten ihr zu. Dann fühlte sie sich nicht mehr so alleine.

Plötzlich hatten sie aufgehört zu schreien und Pauline war hinuntergelaufen. Als sie die Tür zum Wohnzimmer geöffnet hatte, fröstelte sie. Sie hatte die Tür schon schließen wollen, so wie sie die Kühlschranktüre schließen würde, weil sie dabei ertappt worden war, dass sie sie ohne zu fragen geöffnet hatte und weil die Kälte aus dem Kühlschrank herausströmte. Aber sie war doch hineingegangen und hatte sich neben ihre Mutter gestellt. Die hatte nur vor sich hin gestarrt. Tränen waren ihr aus den Augen gelaufen und sie hatte sie, ihre kleine Prinzessin, wie sie sie immer nannte, gar nicht bemerkt. Der Vater hatte starr aus dem Fenster gesehen.

Da hatte Pauline sich hinausgeschlichen, in die Sonne, dahin wo es warm war. Sie hatte nicht verstanden, warum ihre Eltern sich stritten und warum es im Haus so kalt war. Sie hatte an das Märchen von der Eiskönigin gedacht. Hatten ihre Eltern auch Eissplitter in ihren Herzen genau wie Kai, der Junge aus dem Märchen? Was konnte sie tun, damit es wieder so war wie früher?

Pauline begann sich zu drehen. Vielleicht konnte sie so einen Wirbel erzeugen, der sie in die Märchenwelt hineinzog. Vielleicht konnte sie dann ihren Eltern helfen und alles war wieder gut. Sie hatte sich immer schneller und schneller gedreht bis sie hingefallen und ihr ganz schlecht geworden war.

Enttäuscht war sie weiter zum Spielplatz gegangen. Unterwegs war sie einem Schmetterling begegnet und ihm hinterhergelaufen. Beinahe hätte sie ein Auto überfahren, weil sie nicht darauf geachtet hatte. Auf dem Spielplatz war niemand gewesen. Nur der Schmetterling war auf einer Blüte gesessen. Sie hatte ihn genau angesehen. Er war so schön bunt gewesen und ganz ruhig dagesessen, während die Blüte im Wind schaukelte.

Pauline hatte den Atem angehalten. Vielleicht hatte das etwas zu bedeuten. War der Schmetterling eine Fee und würde sie ihr einen Wunsch erfüllen? „Bist du eine Fee?“, hatte sie den Schmetterling gefragt und die Finger nach ihm ausgestreckt. Der hatte die Flügel ausgebreitet und war davon geflattert.

Und nun stand sie hier, hier vor diesem alten Mann. Sie bewegte die Münzen zwischen den Fingern hin und her, ihr Taschengeld. Sie gab sich einen Ruck. „Wenn ich dir mein Geld gebe, kannst du mir dann helfen, dass meine Mama und mein Papa nicht mehr streiten?“ Er streckte die Hand aus, lächelte und nickte. Da gab sie ihm alles, was sie hatte.

„Geh heim“, sagte er zu ihr. Sie rannte los. Als sie zur Tür hereinstürzte stolperte sie über Koffer, die im Flur lagen. Ihr Vater stand daneben, bereit das Haus zu verlassen. Sie sah ihm in die Augen, die sie traurig anblickten. Da begriff sie. Es war noch immer genauso kalt im Haus wie vorhin. Sie rannte in ihr Zimmer, nahm ihr Märchenbuch und schmiss es aus dem Fenster.



 

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