Kleine Freiheit

17.5.2011, 00:00 Uhr
Kleine Freiheit

© Winckler

Fröstelnd wartete Rob darauf, dass sie kamen. Es war ein schöner, aber empfindlich kühler Morgen, und er war froh, dass er eine Thermosflasche mit Kaffee dabeihatte. Der Kaffee schmeckte bitter, vielleicht lag das auch an seiner Stimmung. Rob machte sich keine großen Hoffnungen, dass er den Bauern noch umstimmen könnte. Das hatte er ja schon versucht, vergebens.

Der Bauer hatte anfangs verständnisvoll getan, war aber unnachgiebig geblieben und schließlich zum Gegenangriff übergegangen. „Was willst du denn, du heizt doch auch mit Holz“, hatte er gesagt. So leid es ihm tat, die alte Eiche war im Weg, sie hielt ihn beim Ackern auf, Zeit war Geld, und wir mussten doch alle zusehen, wo wir bla, bla, bla...

Trotzdem wollte Rob noch mal mit ihm reden. Ich muss es tun, dachte er. Das dachte er immer, das war ja das Kreuz. Doch an diesem Morgen meldete sich eine aufsässige, zweite Stimme zu Wort: Warum immer ich? Ich könnte es doch einfach seinlassen. Aller Voraussicht nach fiel der Baum sowieso, nur etwas später als geplant, nach einem Haufen Ärger und einer holprigen Schlagzeile in der Regionalzeitung.

Rob war mittlerweile eine kleine Berühmtheit, das war Fluch und Segen zugleich. Er konnte sich mehr erlauben als früher, wurde ernster genommen, hatte sich aber auch einige Leute zu Feinden gemacht, und in Momenten wie diesem fühlte er sich als Opfer seines eigenen Images und seiner Ideale.

Er goss sich noch etwas Kaffee ein. Wo war die Grenze zwischen lustvollem Planen und Tun und Getriebensein? Etwa hier, am Fuß dieses Baumes, den er ohnehin nicht retten konnte? Mit einer heftigen Bewegung kippte er den Kaffee ins Gras und schraubte die Flasche zu. Was hielt ihn dann noch hier?

Als er sich zum Gehen wandte, sah er das Mädchen. Zögernd blieb er stehen. Mit Sicherheit hatte sie ihn auch schon gesehen. Er kannte sie, sie hatte ihm vor kurzem einmal errötend gestanden, wie sehr sie seine Aktionen bewunderte. Wenn er jetzt ging, verlor er seinen Heiligenschein. So war das mit den Heiligenscheinen, dachte er mit plötzlich aufflammendem Zorn. Man stand immer in der Kritik, das war typisch für unsere Gesellschaft. Die Bequemen kritisierten die Guten, um nicht selbst gut sein zu müssen. Etwa, wenn der Dalai Lama — nicht, dass er sich mit dem vergleichen wollte, nur so als Beispiel — wegen seiner Schwäche für Luxushotels kritisiert wurde. Das diente doch nur der eigenen moralischen Entlastung: Wenn der schon Schwächen hatte, haben wir wohl erst recht ein Recht darauf...

„Hallo“, rief das Mädchen, „ich dachte mir schon, dass ich Sie hier treffe.“ Rob sah, was sie alles dabeihatte. „Das ist nicht dein Ernst“, sagte er fassungslos. Steigeisen, Ketten, einen Rucksack voll Proviant — offensichtlich hatte sie vor, die Eiche zu besteigen. Das Mädchen grinste. „Machen Sie mit?“, fragte sie. „Unsinn“, sagte Rob schroff. Bei aller Liebe, in Mittelfranken kettete man sich nicht an Bäume. Man redete, brachte Argumente vor, sammelte Unterschriften, wandte sich an die Presse.

„Reden allein bringt gar nichts“, sagte das Mädchen. „Und das?“, fragte Rob, „glaubst du, das bringt was?“ Sie zuckte die Schultern. „Man muss es zumindest versuchen, das sagen Sie doch auch immer.“ Wie erwachsen sie wirkte, dachte Rob, letztes Mal war sie doch noch ein halbes Kind gewesen. „Okay“, sagte er spontan, „mach du es. Es ist deine Aktion.“ Ihr Grinsen verschwand, plötzlich wirkte sie wieder sehr jung. „Meinen Sie?“ – „Klar. Viel Glück!“

Im Gehen pfiff er vor sich hin. Er würde sich einen Stadtbesuch gönnen, in die städtische Galerie zu diesen komischen Puppen und dann in ein Café gehen, dazu kam er sonst nie. Die meisten Ausstellungen waren längst abgelaufen, bis er eine Lücke im Terminplan fand, mit Kinofilmen war es genauso, und die Eisbärbabys waren ausgewachsene Bären. Natürlich würde er mit dem Rad fahren, oder — wenn schon, denn schon — einfach mal mit dem Auto.

Als er an der alten Eiche vorbeifuhr, saß das Mädchen schon im Geäst. Rob ließ das Fenster herunter, winkte ihr zu und hob den Daumen. „Ich bin stolz auf dich!“, brüllte er. Doch, es war eine Lust, Dinge in Bewegung zu setzen, Keime zu legen, manche davon aufgehen und wachsen zu sehen, dachte er. Es war ungeheuer befriedigend, im Einklang mit den eigenen Wertvorstellungen zu leben. Aber eine kleine Flucht hatte auch mal was. Wie Schuleschwänzen an einem unvermutet schönen Tag...