Kleine Sieger

26.6.2012, 14:00 Uhr
Kleine Sieger

© Scherer



Von meinem Vater habe ich es gelernt.

Er schrieb jeden Tag zwischen zweiundzwanzig

und ein Uhr nachts Gedichte.

Er hat sie nie veröffentlicht. Er wollte kein Schriftsteller sein.

Manchmal hat er sie mir gezeigt

und selten war er überzeugt davon, dass er echtes Talent besäße.

Er ging wie alle ehrbaren Bürger zur Arbeit,

hackte Holz, jätete Unkraut,

brachte meiner Mutter nach vierzig Ehejahren noch Blumen mit

und verabschiedete sich im Laufe seines Lebens

von der Verwirklichung unzähliger Träume.

Er ist deswegen nicht depressiv und erst recht nicht weise. –

Von meinem Vater habe ich es gelernt, ein Gedicht zu schreiben;

er nahm mich manchmal zur Seite,

so wie andere Väter ihre Söhne zur Seite nahmen

und ihnen das Schießen beibrachten –

und dann erzählte er über Gefühle,

die in Tasten getippt über Jahre hinweg am Leben blieben.

Wir saßen uns gegenüber, und ich sah,

wie die Worte wie freigelassene Tiere aus seinem Mund hervorsprangen.

Er gestikulierte und seine Augen glühten,

und er war glücklich.

Irgendwann brachte uns meine Mutter geschältes Obst

oder ein Stück Kuchen,

gab ihm einen Kuss und sagte in einem Tonfall,

der niemals gebieterisch klang,

dass es jetzt wieder reiche und man wirklich den Rasen mähen müsse;

die Nachbarn wären seit über zwei Stunden damit fertig.

Mein Vater hat großes Glück gehabt;

ohne sie wäre er wohl verrückt geworden

und hätte sich eingebildet, erst dann ein vollwertiger Mensch zu sein,

wenn er – wie lächerlich, lächerlich! –

Bücher

geschrieben hätte.



 

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