Krisenmanagement am Schachbrett

15.11.2011, 10:39 Uhr
Krisenmanagement am Schachbrett

© Scherer

Für den König der Spiele halte ich das Schachspiel: das Spiel der Könige eben. Hierin liegt für mich eine gewisse Doppeldeutigkeit. Denn nicht nur bekämpfen sich auf dem Brett zwei Könige, wobei die stärkste Figur nicht der König selbst, sondern seine Gattin ist, die seltsamer Weise Dame genannt wird. Vielmehr male ich mir gerne aus, dass richtige Könige früherer Zeiten mittels des Schachspiels ernsthafte Kämpfe ausfochten. Ludwig XIV. gegen Wilhelm von Oranien, zum Beispiel. Schlussstand: fünf zu vier nach Nervenzusammenbruch. Oder Edzard I. von Ostfriesland gegen Georg den Bärtigen, Remis im fünften Satz („sächsische Fehde“). Oder so. Über ein oder zwei nicht allzu spitze Ecken bringt mich dieser Gedanke zu der These, dass Spiele immer auch eine Art Ersatzhandlung sind: im Spiel werden Konflikte und Krisen erprobt sowie — meist vom Gewinner — gelöst, ohne dass realiter Blut fließt. Eine sehr romantische Vorstellung, zugegebener Maßen, aber, wie ich meine belegen zu können, mit einem wahren Kern.

Ich unterscheide — als eingefleischter Systematiker — drei Klassen: Brett-, Karten- und Ballspiele. Im Würfel sehe ich nicht mehr als ein Hilfsmittel für eine bestimmte Unterart der Brettspiele und stelle fest, dass sich Brett- und Kartenspezies so nahe stehen, dass eine Kreuzung lebensfähige Nachkommen hervorbringen kann (z.B. Monopoly Simplex), während mir Gleiches bei Ballspielen unbekannt ist. Oder hätte man jemals davon gehört, dass

der Schlussstand eines Ballspieles von den Mannschaften ausgewürfelt wurde?

Beim Spiel der Könige tummeln sich auf dem Brett vor allem viele Bauern — von den militärischen Spezialisten wie Läufern oder Springern einmal abgesehen, die heutzutage ja viel eher mit olympischen Folter-Disziplinen als mit Landsknechten in Verbindung gebracht werden. Meiner Erfahrung nach werden die Bauern entweder schnell ins Jenseits (sprich: vom Brett) befördert oder sie stehen sich in einer ruhigen Ecke des Schlachtfeldes die (nicht vorhandenen) Beine in den Bauch. Es würde mich nicht Wunder nehmen, wenn reale Bauern in den realen Kriegen des 17. und 18. Jahrhunderts aus Langeweile das Pokern, „17 und 4“, den Skat und meinen persönlichen Favoriten, den Schafkopf erfunden hätten. Und während die Könige wehrlose Bauern über das Brett schieben, knallen schafkopfende Bauern seitdem Könige, Ober und Unter (-offiziere) auf den Wirtshaustisch, dass das Eichholz kracht.

Die Ballsportarten, allen voran der Fußball, tragen nun freilich nicht unerheblich zur Neutralisierung von Energieüberschüssen und insofern zur Befriedung der Völker bei. Zugeben — der Lerneffekt erschöpft sich schnell. Wenn einer raus hat, wie er den Ball treten muss bzw. einem anderen dabei zusehen, dann reicht das. Doch auf den zweiten Blick, beispielsweise dem auf Boccia, könnte man schon behaupten, das Schleudern und Katapultieren der stählernen Geschosse diene als Vorbereitung einer artilleristischen Karriere, einer zum Glück ausgestorbenen Variante der bildenden Künste. Insbesondere das donnernde Getöse, die blutrünstigen Schreie, das krachende Knirschen des Sandes erinnern schwer an Schlachtenlärm. Wenigstens behaupteten das die sogenannten „Anwohner“ der Rosenau in Nürnberg.

Ich bleibe demnach bei meiner These: spielerisch üben wir bereits im Kinderalter wichtige Strategien und Tricks fürs Überleben in Krieg und Frieden. Deutlich wurde mir dieser Sachverhalt, als ich wieder einmal zwei Dutzend schwarze Socken von der Wäscheleine pflückte und mindestens eine Stunde lang fluchend und schwitzend die zusammen gehörigen Paare suchte. Und da begriff ich plötzlich, wieso Eltern ihre Kinder dazu zwingen, mit ihnen Memory zu spielen! Mit einem Wort: q.e.d.

Wer das Brett nicht vor dem Kopf hat, sondern aus genügendem Abstand betrachtet, wird gewiss leicht erkennen, dass Monopoly nichts anderes als die Vorbereitung auf den in neoliberalen Kreisen uneingeschränkt bejubelten Gier-Kapitalismus war und „Risiko“, das seit den 1950er Jahren große Popularität genoss, die unverhohlene Vorwegnahme wenn nicht Nachahmung des Kalten Krieges und dessen grausamer Stellvertreter in Asien und Afrika.

„Die Siedler von Catan“ erschien 1995 und nimmt in meinen Augen die zukünftige Problematik der Rohstoffknappheit vorweg. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich es nicht mehr richtig wiedergeben kann, aber ich erinnere mich, seinerzeit nächtelang mit Holz, Lehm und Weizen gehandelt zu haben, ohne mir groß darüber Gedanken zu machen, was ich da eigentlich tat. Inzwischen vermute ich: die Siedler sollen uns behutsam auf eine Welt nach dem Zusammenbruch der westlichen Wirtschaftssysteme vorbereiten, auf eine neo-mittelalterliche Gesellschaft, in der tatsächlich mit Wolle aus Westmittelfranken und Erz aus der Hersbrucker Schweiz gehandelt werden wird. Doch das liefe darauf hinaus, dem Spiel prophetische Gaben zuzugestehen, das Spiel als spielerische Einstimmung auf die Zukunft zu interpretieren. Und warum eigentlich nicht?

Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Ausnahme von meiner These ist für mich „Mensch-Ärgere-Dich-Nicht“. Mir ist bis heute nicht klar, was ich dabei lernen soll — wer sich nicht darüber ärgert, verloren zu haben, hat meiner Ansicht nach entweder gar nicht ernsthaft gespielt oder ist nicht ganz normal. Ich jedenfalls ärgere mich bis heute maßlos, wenn mir ein Gegner das kleine Holzmännchen von der Rille kickt, und nur meine überaus große Würde verbietet es mir, das Brett mitsamt Würfel und Figuren an die Wand zu klatschen.

Nichts gelernt zu haben schadet in diesem Fall nicht. Spielerisch etwas Falsches zu lernen, kann allerdings sehr negative Folgen haben: Ganz im Sinne meiner These möchte ich in diesem Zusammenhang auf das „Planspiel Börse“ hinweisen, das in den frühen 1980er Jahren Einzug in

den westdeutschen Klassenzimmern hielt, organisiert von den Sparkassen. Die Schüler von damals sitzen heute an den Börsen in Frankfurt, London und New York und reiten mal ganz spielerisch die Volkswirtschaften ganzer Kontinente in den Abgrund — weil: sie wollen doch nur spielen! Wer auch immer das „Planspiel Börse“ erfunden haben mag, ich vermute, er wusste nicht im Geringsten was er da tat.

Ein Freund wartete neulich mit dem Vorschlag auf, die Börsenspekulation in letzter Konsequenz zu einem reinen Spiel zu machen. Losgekoppelt von der realen Wirtschaft, fechten höchstbesoldete Börsenprofis in der jeweiligen Landesliga eine Meisterschaft aus. Wir einfachen Bürger glotzen die Live-Übertragung der Termingeschäfts-WM, gehen zum Public Viewing des Finales der Hochrisikopapier-Champions League — und mästen ansonsten ungefährdet unsere Sparschweine.

Dem Einfallsreichtum sind keine Grenzen gesetzt, und ich möchte daher abschließend ein neues Hybridspiel vorschlagen, nämlich die Kreuzung aus Schach (quasi die Orgel unter den Spielen) und Schafkopf (der Wirtshausquetsche). Beim „Schachkopf“ ginge es darum, dass die vier Mitspieler je eine Karte auf dasselbe Feld manövrieren. Je nachdem, wie der Würfel fällt, darf diagonal oder entlang einer Reihe gesprungen werden. Wenn sich die vier Karten treffen, wird aufgedeckt, worauf dann wieder wie seit Annodunnemals gilt: „Herz ist Trumpf“ und „Ober sticht Unter“. Auf welche kommende Herausforderung dieses Spiel uns vorbereiten könnte, bleibt abzuwarten...

 

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