Lied der Freiheit

11.9.2012, 09:07 Uhr
Lied der Freiheit

© Rödel

Seine Stimme klingt grob und unwirsch. Sie übertönt die Wetteransage im Fernsehen. „Am Sonntach, da will ich mei Fleisch!“ Ihre Stimme hingegen, fast ein Flüstern, geht unter in diesem Wohnzimmer. „Aber ich hab’ doch nur gemeint, dass wir auch mal...“ „Nix da“, würgt er sie ab „des will ich gar net hören. Sonntachs gibt’s a Fleisch und basta.“ Er dreht die Lautstärke am Fernseher auf. Und setzt nach. „Du weißt genau, alle Tage ess’ ich, was du mir vorsetzt. Immer. Aber am Sonntach net... Und jetzt gib’ a Ruh, jetzt kommt die Sportschau.“ Sie weiß, was das bedeutet. Sie versucht es trotzdem. Sie tänzelt vorm Fernseher, wiegt ihre Hüften, schenkt ihm aussagekräftige verführerische Blicke. Lockt ihn. Und erntet ein wütendes gebelltes Stakkato von seiner Seite. „Geh aus der Optik, Erna. Sofort!“

Früher noch, vor gefühlten hundert Jahren, ganz am Anfang ihrer Ehe, da gab es schon das eine oder andere, mit dem sie ihn von seiner Sportschau ablenken konnte. Er es geradezu genoss, wenn sie ihn so störte. Er seine Augen nicht mehr von ihr abwenden konnte, wenn ihre ausschlaggebenden Argumente überwogen. Feurige Blicke hatte sie ge-erntet. Und begehrliche Hände.

Und noch ein bisschen mehr. „Okay“, flötet sie ins Telefon im Nebenraum. Und errötet leicht. Flüstert „aber“ und „oh ja“, legt auf. Gießt im Anschluss daran ihre üppige gutgewachsene Engelstrompete, die ihren süßlich-herben eigentümlichen Duft verschwendet. Schwelgt in Gedanken, die so frei sind wie der Abendwind. „Die Gedanken sind frei“, lächelt sie in sich hinein. Und ihre werden noch ein bisschen freier. Dann schreibt sie die Einkaufsliste für morgen. Obenauf steht Metzger Ruppold, von dem mag er seine Ware immer noch am liebsten. Es wird Sauerbraten geben, denkt sie.

Den legt sie dann schon ab morgen ein. Lässt ihn drei Tage und drei Nächte im Sud ziehen. Der essigsaure Dunst wird die Räume durchwabern. Und er wird nicht mehr die Fleischdiskussion aufbringen. Dieser Geruch spricht seine eigene, definitive Sprache. Die, dass sie ihn verstanden hat, ihm widerspruchslos gehorcht.

Sein Pfeifen tönt aus dem Keller. Er hat den Braten gerochen, wiegt sich in Vorfreude. „Sonntachs“, informiert er seinen Kumpel Werner, „gibt’s an Sauerbraten. Riechst es?“ „Du hast es gut“, sagt Werner voller Neid. Das Modellsegelschiff nimmt immer mehr Gestalt an. „Die Erna wollt’ ja net, aber da hab’ ich ihr Bescheid gesagt. Alles, was Recht ist, hab’ ich gesagt.“ „Du hast es gut“, wiederholt Werner und denkt sehnsuchtsvoll an die Zeit zurück, als seine Holde noch lebte. „Und vorher gehen wir im Löwen einen aufkarteln, wie immer halt.“ „Klar!“ Auch das gehört zu einem richtigen Sonntag dazu.

Der Sonntag zieht ins Land. Er öffnet die Haustür, riecht den fertigen Braten. Das Wasser läuft ihm im Mund zusammen. „Erna“, ruft er zufrieden nach ihr, als er zur Küche hereintritt, „ich...“. Ihm bleibt der Mund offen stehen. Der Tisch ist gedeckt. Für eine Person. Ein Zettel liegt da, wo sonst Ernas Teller steht. Die Einkaufsliste von vor vier Tagen.

Der Sauerbraten war ein Gedicht, zart und deftig. Wie nie zuvor. Sein letzter. Ihr Abschiedsgeschenk, das steht auch auf dem Zettel. Unterdessen hatte Erna, dem Lied der Freiheit in ihrem Herzen folgend, Segel gesetzt und gefunden, was sie sich in ihren kühnen und wilden Gedanken ausgemalt hatte: Leidenschaft, Begehren, pure Lust. In Werners Armen.

Und jetzt kocht sie sonntags prinzipiell nie mehr.



 

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