Metamorphosen im Rosengarten

29.4.2014, 09:21 Uhr
Blühende Fantasie: "Freiheit"-Autorin Gisela Lipsky.

© Winckler Blühende Fantasie: "Freiheit"-Autorin Gisela Lipsky.

Schönheit vor mir, Schönheit hinter mir.“ Valerie murmelte es im Gehen wie ein Gebet vor sich hin, einen Rosenkranz. „Schönheit zu meiner Linken . . .“ Vor ihrem geistigen Auge ließ sie blühende Wildrosenhecken wachsen. Zart und schön und undurchdringlich. Wehrhaftigkeit musste nicht hässlich sein. Die Hecken boten mehr Schutz als Pfefferspray oder eine dicke Haut. Die konnte man sich nicht so einfach wachsen lassen, Hecken schon.

Valerie zwinkerte. Einen Moment lang war ihr fast schwindlig geworden, weil sich die beiden Bilder überlagert hatten. Die blühenden Dornröschenhecken und der frühlingshafte Rosengarten im Stadtpark. Die Stadtpark-Rosen hatten gerade erst ausgetrieben, sie waren noch weit von der Blüte entfernt. Valerie blieb stehen, bis sie wieder klar sah. Manchmal ging einfach die Fantasie mit ihr durch.

Neulich hatte sie sich den Oberbürgermeister als König von Fürth vorgestellt, mit Krone und Zepter. Kurz zuvor hatte sie die Queen im Fernsehen gesehen, und der ganze Pomp hatte ihr so gut gefallen, dass sie ernsthaft überlegt hatte, wie viele Steuer-Euro ihr so etwas wert wäre. Also, wenn es vor dem Rathaus Paraden mit Pferden gäbe, und der OB führe mit seiner Familie in einer Cinderella-Kutsche durch die Stadt, das dürfte schon zwanzig, dreißig Euro extra im Jahr kosten. Ob das für eine Krone und die Stallungen reichen würde? Und ob es mehrheitsfähig wäre? In Fürth!? Ein Blinzeln, und der OB fuhr wieder Fahrrad. Schade.

Valerie ließ die Rosen noch etwas höher wachsen. Das war einfach genial. Die blühenden Hecken schirmten sie ab vor allem, was sie bedrängte, ließen sie durchatmen und Abstand gewinnen. Es war ja nichts wirklich Schlimmes passiert, Gott sei Dank. Nur, dass sie einen Strick um den Hals hatte, einen ums Handgelenk und zwei weitere Stricke um ihre Knöchel. An einem zog ihr Chef, am anderen ihre Familie, am dritten zwei Freunde, die miteinander im Clinch lagen, am vierten ein ausgebrannter Kollege. Es hätte Valerie nichts ausgemacht, jedem von ihnen ein Stück entgegenzukommen, auch wenn ihr Herz sie in eine ganz andere Richtung zog. Aber das war schon rein physisch unmöglich, und psychisch schaffte sie es auch nicht. Alle zogen nur sanft, das musste sie ihnen lassen, aber sie zogen in verschiedene Richtungen. Wie sollte sie da auch nur einen festen Standpunkt bewahren?

In ihrer Not hatte Valerie sich an einen alten Indianer-Trick erinnert und einen Dolch aus dem Gürtel gezogen. Gut, dass es doch keine Monarchie in Fürth gab, womöglich hätte König Thomas Dolche verboten und sie dafür in den Rathaus-Kerker werfen lassen! Sie hatte die Stricke einen nach dem andern durchschnitten und sich mit einem Navajo-Gebet Schutz vor den möglichen Konsequenzen erbeten: „Schönheit vor mir, Schönheit hinter mir . . .“ Womöglich stellten sich die Navajo dabei blühende Kakteen vor, Heckenrosen gab es bei denen wahrscheinlich gar nicht. Egal, der Zauber wirkte.

Aber litten nicht alle unter den Nachstellungen des Alltags? Valerie wurde von Mitleid überschwemmt. Sie sollte um Schutz für alle bitten, statt sich einzumauern, zumindest für ihre Familie und Freunde. Weg mit den Rosen! Die Gemeinschaft bot Schutz und Wärme, so wie Schafe Schutz in der Herde fanden. Wollig und warm und zufrieden mit der Nähe der anderen und einem saftigen Büschel Gras zwischen den Zähnen. So sah sie die Herde vor sich, malerisch hingetupft zwischen den Rosenbeeten.

Ein Bild des Friedens. Aber zu Ostern hatte Lamm auf dem Speiseplan gestanden, die Herde hatte es nicht verhindern können. Und dann das dicke, immer etwas fettige Fell. Und dieser eingebildete Leithammel! Ganz zu schweigen vom Hirtenhund, der einen in die Haxen zwickte, wenn man nicht schnell genug spurte. Nein, die Herde hatte ausgedient.

Dann lieber ein einsamer Wolf. Aber als Einzelkämpfer wurde man doch auch nicht glücklich. Und Valerie wollte sich nicht mit Zähnen und Klauen verteidigen müssen, wollte weder Jäger noch Gejagter sein.

Je länger sie darüber nachdachte, desto verlockender erschien ihr das Menschsein. Das Leben als Schaf mochte in mancher Hinsicht einfacher sein. Doch das Menschsein bot einfach mehr Optionen. Auch Menschen trugen Fesseln. Aber es lag in ihrer Macht, sich zu wehren. Mit einem imaginären Dolch zum Beispiel. Oder mit den Blüten, die die Fantasie trieb.

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