Mit dem Vogelmann in ein vielschichtiges Universum

2.2.2014, 12:00 Uhr
Mit dem Vogelmann in ein vielschichtiges Universum

© Thomas Scherer

Es ist nur ein verwaschenes Foto, aufgenommen an Halloween 1966. Zu sehen ist ein Mann, der sich eine sehr große Papiertüte über den Kopf gezogen hat. Das Ding reicht ihm bis zu den Hüften und ist mit ungelenken Strichen bemalt. Trotzdem sind Schnabel, Augen, Flügel und wirres Gefieder zu erkennen. Anja Molendijk entdeckte das Bild zufällig auf einer Website. Die Aufnahme ließ sie nicht mehr los, ebenso wenig wie der einzige Satz, der als Erklärung darunter steht: „he dressed up as a bird“ – Er hat sich als Vogel verkleidet.

„Dieses Foto hat mich regelrecht angesprungen“, erinnert sich die Künstlerin. „Es ist absurd, skurril und naiv, aber in einem positiven Sinn. Es zeigt eine Verkleidung, die mit einem Vogel denkbar wenig zu tun hat.“ Das improvisierte Kostüm führt merkwürdigerweise dazu, den Mann, der darunter steckt, wesentlich intensiver zu betrachten und über seine Geschichte zu spekulieren. Gut möglich, dass man ihm ansonsten gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. „Für mich wurde das Foto tatsächlich zur Vorlage zum Weiterspinnen“, sagt Molendijk. In diesem Raum, der sich zwischen einer klar erkennbaren Realität und der Imagination auftut, bewegt sich die Malerin mit schlafwandlerischer Sicherheit.

Die Arbeiten, die sie nun noch bis zum 30. März in der Promenaden-

Galerie zeigt, berühren den Betrachter in ganz ähnlicher Weise wie der unbekannte Vogelmann. Ihnen wohnt ein Geheimnis inne, das enthüllt und durchschaut werden möchte. Den Weg hat Molendijk bereits ein Stück weit gebahnt. Der Schlüssel dazu liegt in ihrer Arbeitsweise. Sie trägt Schicht um Schicht Farben auf, macht Abdrücke von Pflanzen oder Zeitungsseiten. Was sich dabei ergibt, erlebt die 54-Jährige als „kontrollierten Zufall“. Später legt sie teilweise wieder frei, was zuvor verborgen wurde. Ein Begriff, mit dem sie selbst ihr Vorgehen am liebsten beschreibt, heißt „Palimpsest“. Ein wunderbares Wort, das ein wenig prosaisch so viel wie „wieder abschaben“ bedeutet. Eine Technik, zu der Sparsame im Mittelalter griffen, um Schriftzeichen von kostspieligen Manuskripten zu entfernen, damit das Material ein weiteres Mal beschriftet werden konnte.

Bei Molendijk ist dies ein entblößender Vorgang, der entlarvt und beinahe programmierte Überraschungen zulässt. Taucht doch nun plötzlich auf, was sich zuvor nur erahnen ließ. Geschichten und Ideen werden deutlicher. Weitere Indizien liefern die Ritzzeichnungen, mit denen Molendijk den hochglänzenden Bootslack, den sie als letzte Lage aufgetragen hat, gezielt wieder aufreißt. Diese mit wenigen Millimeter zarten Strichen gearbeiteten Bilder in den Bildern sorgen dafür, dass Sehen und Erkennen für den Betrachter zu einer Aufgabe wird, die sich nicht im Vorübergehen erledigen lässt.

„cause i warned“ hat sie eines dieser komplexen Bilder genannt, auf dem zunächst eine offensichtlich erschreckte Frau beinahe in Lebensgröße auszumachen ist. Für den, der sich Zeit nimmt, wird es nicht dabei bleiben. Er wird vitale Strukturen entdecken. Die Blütenblätter einer Seelilie, zum Beispiel. Nach und nach entfaltet sich dann eine ganz persönliche Geschichte – eine von vielen, die in dieser Arbeit verborgen sind.

Alle Werke, die nun im persönlichen Ambiente der Galerie ausgestellt sind, tragen Titel. Ob damit für Besucher der Einstieg in die Molendijk’sche Welt leichter wird? Das sei bei Ansagen wie „der mond war schwer zu fassen“ oder „mission STS-120“ dahingestellt. Aber da ist auch „mrs. danvers“ oder „kantorka“. Und prompt verknüpfen sich über die sinistere Haushälterin aus dem Gruseldrama „Rebecca“ oder das Mädchen aus Otfried Preußlers „Krabat“ neue Geschichten beim Entziffern dieses unendlich vielschichtigen Universums.

Besichtigt werden kann die Schau in der Hornschuchpromenade 17 bis 30. März jederzeit. Galerist Christian Fritsche bittet allerdings um Terminvereinbarung unter der Rufnummer (0911) 706660.

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