Neid

25.6.2013, 09:05 Uhr
Neid

© Scherer

Sie erwachen bei Sonnenaufgang, Taube und Täuberich.

„Guten Morgen“, gurrt die Taube.

„Guten Morgen“, gurrt der Täuberich.

Dann frühstücken sie ein paar vertrocknete Beeren im Holundergebüsch, das im Schatten hinter der Hofmauer wächst.

„Oh Mann“, stöhnt die Taube, als sie das Frühstück beendet haben. „Mich drückt ein dickes Ei, ich glaube, ich muss sofort legen.“

„Moment!“ gurrt der Täuberich, „Wenn du zwei Minuten wartest, baue ich noch schnell ein Nest.“

„O.k.“, gurrt die Taube, „aber mach hinne.“

Der Täuberich sieht hoch zu meinem Balkon, denkt einen Augenblick nach und gurrt dann: „Ich könnte mir vorstellen, dass da oben ein guter Platz ist. Ich nehme die Zweige, die hier herumliegen. Die sind zwar vermutlich schon gebraucht, aber sehen noch aus wie neu.“

Sie fliegen hoch zum Balkon meines Schlafzimmers. Der Täuberich wirft mit dem Schnabel drei oder vier dürre Zweige in die schattige Ecke hinter einem Blumenkübel, und schon drängt ihn die Taube zur Seite, um Platz zu nehmen.

„Halt!“ hält der Täuberich seine Gattin zurück, „da fehlt noch etwas!“

Dann kackt er mitten in das wirre Geflecht hinein.

„Fertig“, gurrt er.

Woraufhin sie das Ei legt. Nach getaner Tat setzen sich beide Tauben daneben und glotzen blöd in die Luft. Und sie gurren abwechselnd so laut, dass ich schließlich davon erwache.

Als ich durchs Fenster das Nest erblicke, bin ich mit einem Schlag hellwach. Ich reiße die Balkontür auf, packe den Besen, der schon bereit steht, verscheuche brüllend die beiden Mistviecher. Anschließend schiebe ich das Nest auf eine Kehrschaufel und schleudere es weit hinaus, bis in den Hinterhof des Nachbargebäudes.

Kurz zitiere ich noch Tod und Teufel, während ich die Faust Richtung Baum schüttele, auf dessen höchstem Ast die Tauben sitzen und mich beobachten. Dann ziehe ich mich in die Küche zurück, um meinen Ärger mit Kaffee zu ertränken.

Eine lange Weile sagt keine der Tauben etwas. Abwechselnd gurren sie und glotzen in die Luft.

Schließlich fragt der Täuberich: „Wie spät es wohl sein mag?“

„Ich denke so halb zehn wird es sein“, gurrt sie. „Schon so spät? Naja, dann würde ich sagen, wir haben für heute unser Soll erfüllt. Lass uns irgendwo zu Abend essen, ehe alle Schlupfwinkel besetzt sind.“

„O.k.“, gurrt die Taube.

Sie übernachten auf der obersten Sprosse einer Stehleiter, die Handwerker zwei Querstraßen weiter in einer Loggia stehen ließen.

Sie erwachen bei Sonnenaufgang und frühstücken im Holundergebüsch, ehe sie sich daran machen, den geeigneten Bauplatz für ein Nest zu suchen.

Der Täuberich sieht hoch zu meinem Balkon, denkt einen Augenblick nach und gurrt dann: „Ich finde, da oben ist ein guter Platz …“

Als ich später wieder in der Küche sitze und über meinem Kaffee darüber brüte, wie ich die Plage ein für allemal beenden könnte, befallen mich mit einem Mal schwere Selbstzweifel.

Warum zum Teufel will ich überhaupt verhindern, dass mein Balkon zum Neubaugebiet für Stadttauben verkommt? Warum bestehe ich so hartnäckig darauf, dass direkt vor meinem Schlafzimmerfenster weder Vogeljunge gezeugt noch dort ausgebrütet werden?

Taubenscheiße, Flöhe, Federn, nicht zuletzt das enervierende Gurren – alles wohlbekannte Argumente. Doch erkenne ich, dass es da noch eine ganz andere Motivation gibt, eine versteckte, die der dunklen Rückseite meiner Seele entstammt, nämlich die Todsünde der Missgunst.

Ich beneide diese Vögel – entgegen allen Anscheins – ihres jämmerlichen Daseins. Ich missgönne ihnen alles, was sie nicht haben: keinen Chef, keine Arbeitszeiten, keine Bank, keine Versicherungen, keine Miete, keine Termine, kein Internet. Kein Gedächtnis. Sie sind unendlich beschränkt und deswegen unendlich frei.

Ich glotze trübe in meinen Tasse, bis es plötzlich klingelt. Vor der Tür steht die Postfrau und fragt, ob ich ein Paket für einen Mitbewohner entgegennehmen würde. Mitbewohner? Ja, hier. Ich könne mich selbst davon überzeugen, meine Anschrift, und zwar an „Herrn und Frau Thilo Aube“.

Ich ahne, für wen das ist. Und obwohl mich der zunehmende Lärm irritiert, welcher seinen Ursprung in meinem Schlafzimmer zu haben scheint, öffne ich das Paket. Schließlich werde ich ja noch wissen dürfen, was meine Untermieter im Internet ordern. Nämlich einhundert Kleinteile, vierzig Hölzchen, graugrün lasiert wie Taubenscheiße. Es ist ein Ikea-Nest.

Ich begreife plötzlich alles und eile zum Balkon. Draußen herrscht rege Bautätigkeit! Schon hievt ein Kran Gerüstbauteile bis hinauf in den dritten Stock. Die unteren Balkone und der Hinterhof sind mit wirr durcheinander geworfenen Brettern und Balken übersät.

Tauben sitzen auf Geländern und Ästen und picken auf kleinen tragbaren Computerbildschirmen. Sie steuern Maschinen, sie surfen im Internet, sie organisieren idiotische Bauprojekte. Ein Täuberich sitzt auf dem Balkongeländer und spricht mit einem winzigen Mobiltelefon: „Nein“, gurrt er wütend, „auf dem Konto muss definitiv genug Guthaben sein, um die Alimente zu decken...“

Es ist Tatsache: Die Evolution hat über Nacht einen Sprung gemacht. Zumindest bei den Tauben. Sie verfügen jetzt auch über eine hochentwickelte Intelligenz. Und ich habe keinen Grund mehr, neidisch zu sein.

An diesem Samstag, 20 Uhr, ist Theobald Fuchs im Rahmen des Festivals „Lesen!“ im Gelben Löwen in der Gustavstraße zu hören. Mit geräuschvoller Kulisse ausgeschmückt steht eines seiner frischesten Werke mit der Überschrift: „Der Mann, der.“ auf dem Programm. Karten für 5 Euro im Vorverkauf und 7 Euro an der Abendkasse. 



 

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