Neid

6.8.2013, 09:21 Uhr
Neid

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Mein Verhältnis zu Autos ist lange Zeit völlig unsentimental gewesen. Alle paar Jahre kaufte ich irgendeinen billigen Gebrauchtwagen, fuhr ihn so lange, wie der TÜV erlaubte, und besorgte mir dann den nächsten – irgendeinen alten Golf, Polo oder Corsa, ich war nicht wählerisch.

So hätte es mein Leben lang weitergehen können, wäre mir nicht eines Tages der alte Monsieur Fatin begegnet. Das heißt, ich begegnete in dem südfranzösischen Nest, in dem mein Wagen den Geist aufgab, nicht ihm selbst, sondern seinem Citroën.

Drahtzieher war der Mechaniker der Autowerkstatt, der meinen Wagen für so gut wie irreparabel erklärt hatte. Aber er habe da einen ganz großartigen Tipp für mich. Ein treuer Kunde von ihm, ein gewisser Monsieur Fatin, erzählte er mir, sei vor einem Monat verstorben, und seine Familie, die gleich im Nachbarort wohne, habe seinen Citroën, Baujahr 1969, vorübergehend in einer Scheune untergebracht. Behalten wollten sie ihn nicht – aber ihn einfach verschrotten zu lassen, brächten sie auch nicht übers Herz. Da käme ich als Interessent gerade recht, denn mittlerweile herrschten in Frankreich strengere TÜV-Sitten als in Deutschland, und ich könnte den Citroën bestimmt noch ein paar Jahre lang fahren.

Eine halbe Stunde später standen wir in der Scheune, und ich traute meinen Augen nicht. Ich kannte den Wagen. Es war ein dunkelgrüner ami6. Ich hatte ihn sogar schon einmal besessen. Als Bub, in einem meiner Autoquartette, in genau derselben Farbe. Ich wusste sogar noch die technischen Daten: Zwei Zylinder, 23 PS, ein halber Liter Hubraum, Spitzengeschwindigkeit 110 Stundenkilometer. Wenn man die Karte mit dem ami in der Hand hielt, hatte man unweigerlich verloren. Das extravagante Design mit der schräg einwärts geneigten Heckscheibe konnte mich damals nicht darüber hinwegtrösten, dass man mit dieser Quartettkarte keinen Stich machen konnte, und hätte ich als Grundschüler schon gewusst, dass „ami“ „Freund“ heißt, hätte ich sofort jeden Gedanken an Freundschaft mit so einem Auto weit von mir gewiesen.

Aber jetzt war alles anders. Jetzt hatte ich das Gefühl von einer magischen Verbindung. Vielleicht, dachte ich, war es sogar genau dieses Exemplar, das man damals für meine Quartettkarte fotografiert hatte. Vielleicht hat der Citroën mich gesucht, weil er mir sagen wollte: „Es tut mir leid, dass du wegen mir beim Autoquartett so oft verloren hast. Jetzt bin ich gekommen, um dir zu zeigen, dass ich auch meine Qualitäten habe. Wollen wir für den Rest meines Lebens Freunde werden?“

Die Felgen waren verrostet, der Fahrersitz war verschlissen, es gab keine Warnblinkanlage, die Bespannung des Wagenhimmels fehlte und im Inneren des Wagens roch es muffig nach der Scheune, in der er seit Monsieur Fatins Tod auf mich gewartet hatte, aber abgesehen von diesen Kleinigkeiten wirkte er völlig intakt. Monsieur Fatin junior drückte mir einen aufgeschlagenen Schnellhefter in die Hand, in dem sich dreieinhalb Jahrzehnte Werkstattrechnungen befanden. „Sehen Sie?“ sagte er. „Erst vor zwei Jahren hat unser Vater noch einen Austauschmotor einbauen lassen. Er war nicht dazu zu bewegen, den Wagen verschrotten zu lassen. Deshalb ist es uns lieber, wir können ihn in gute Hände abgeben.“

Ich konnte nicht anders, ich musste den ami kaufen, auch wenn das bedeutete, dass mein Urlaubsetat damit aufgezehrt war und ich mit meinem neuen Freund vorzeitig die Rückreise antreten musste. Nach den Maßstäben von Tuningfreaks und Autoquartett spielenden Jungs hatte ich natürlich einen absoluten Loser erworben. Von 0 auf 100 brauchte der alte Herr zwei Minuten, und wenn es bergauf ging, wuchsen die Lastwagen im Rückspiegel rasch zu bedrohlicher Größe an. Aber das trübte unsere neue Freundschaft nicht.

Schon nach wenigen Kilometern ertappte ich mich dabei, wie ich mit ihm sprach und ihn Monsieur Fatin nannte. Kurz vor der Grenze nach Deutschland besorgte ich eine Packung Gitanes Maïs und legte sie ihm ins Handschuhfach, als Medizin gegen Heimweh.

Seither sind zehn Jahre vergangen, und sie liegt heute noch dort. Den abgebrochenen Urlaub von damals hat mir Monsieur Fatin längst mehrfach vergolten. Er kann fränkische Landstraßen in französische Chausseen verwandeln, ich kann mit ihm in die Zeit von Françoise Hardy und France Gall zurückreisen, und er ignoriert mit Würde die jungen Hupfer, die sich hinter ihm drängeln und ihn mit rücksichtslosen Manövern überholen. Denn seiner Ansicht nach sind sie nur neidisch...


 

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