O Haupt voll Blut und Wunden

25.3.2019, 20:58 Uhr
O Haupt voll Blut und Wunden

© Foto: Hans-Joachim Winckler

"O Mensch, bewein’ dein Sünde groß": Zu den Merkwürdigkeiten der lutherisch-barocken Theologie der Matthäus-Passion gehört nicht allein der Umstand des Mit-Leidens des Einzelnen mit Jesu Leiden, sondern die Schuldvermittlung. Da erklärt Paulus in seinen Briefen Jesu Kreuzestod zur Befreiung des Menschen von seiner Schuld; doch wenn dem Zuhörer textlich und musikalisch in epischer Breite vorgeführt wird, dass der Heiland seinetwegen den Kreuzestod auf sich genommen hat, dann strömen Schuldgefühle durch Hinter- wie Vordertüre wieder hinein und wollen ausgekostet sein. "Buß und Reu knirscht das Sünderherz entzwei."

Bühne für ein Seelendrama

Trotzdem — und trotz der heutigen Gemütern eher befremdlichen poetischen Ausdrucksweise des Textdichters Christian Friedrich Henrici alias Picander — schlägt Bachs Gipfelwerk nach bald 300 Jahren den Zuhörer immer noch in seinen Bann. Selbst ein so nüchterner Raum wie die Johanneskirche in Oberasbach verwandelt sich da für drei Stunden in eine Bühne für ein Seelendrama. Was aber nichts mit Oper zu tun hat, auch wenn Bachs Zeitgenossen gelegentlich opernhafte Affekte zu bekritteln meinten.

Das beginnt schon mit dem wuchtigen Eingangschor "Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen", wobei die Wucht der Capella Vocalis durch den Begleitchor der Kinderkantorei St. Rochus (unter Leitung von Sophia Lederer) mit fein platzierten Echo-Wirkungen abgemildert wird.

Die Hauptlast der folgenden drei Stunden tragen neben dem Dirigenten Bernhard Joerg, der das Fürther Kammerorchester KlangLust souverän leitet, die vier Hauptsänger, und da vor allem der Tenor, der den Evangelisten Matthäus verkörpert. Stefan Schneider war kurzfristig für den erkrankten Johannes Strauß eingesprungen. Ihm oblag nicht allein die einfühlsame Rezitation des Evangeliumstextes, sondern obendrein die dramatischen Zuspitzungen, etwa wenn er Jesu Enttäuschung über seine schlafenden Jünger im Garten Gethsemane stimmliche Gestalt verleiht, die Gefangennahme und das Verhör schildert.

All die Seelenqualen, die sich der Sänger des Jesus selbst versagen muss. Bassist Markus Simon verkörpert einen unerschütterlichen Jesus, der sein Leid weniger stoisch auf sich nimmt als vielmehr im Bewusstsein einer vorzeitigen Überwindung. Lediglich auf dem Höhepunkt der Kreuzigung, im Anruf "Eli, Eli, lama asabthani" gestattet er sich den Anflug schwindender Kraft.

Für tief bewegende Eindrücke sorgen Sopranistin Heidi Elisabeth Meier, Ensemblemitglied der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg, und Katharina Fulda (Alt) in ihren Arien und Duetten, mit denen Bach die Verstrickungen der schuldbeladenen menschlichen Seele ins Heilsgeschehen schildert, sie mitleiden oder auch (gegen Judas und jegliche brutale Willkür) wüten lässt. Speziell die von Fulda gesungene Arie "Erbarme dich" stellte hierin einen emotionalen Höhepunkt der Aufführung dar.

Daneben setzte Thomas Braun als Petrus dramatische Akzente — der Jünger, der seinem Heiland die Treue schwört, um ihn dann dreimal zu verleugnen. Dies gelingt ihm mittels eines leichten Anflugs an falschem Pathos beim Schwur und durch aggressive Hast bei der Verleugnung.

Wechselnde Intonation

Sehr beeindruckend auch, wie die Capella Vocalis den fünfmal anklingenden leitmotivischen Choral "Befiehl du deine Wege" bzw. "O Haupt voll Blut und Wunden" unterschiedlich gestaltet. Die feierliche Melodie schwankt in ihrer wechselnden Intonation zwischen Mitleid, Resignation, Schicksalsergebenheit und, speziell nach dem Kreuzestod, flehentlicher Bitte, wenn es heißt "Wenn ich einmal soll scheiden".

Aber etwas fehlt doch: die Auferstehung. Die versagen sich Bach und Picander, denn ursprünglich war die Matthäus-Passion Gebrauchsmusik für den Gottesdienst. So schließt die Leidensgeschichte mit einer eher zaghaften Aussicht auf Trost: "Wir setzen uns mit Tränen nieder". Und gerade diese Zaghaftigkeit zum Abschluss, die Verweigerung der Apotheose sichert dem Werk seine emotionale Wucht, die sich auch in Oberasbach in der langen Stille nach dem Schlussakkord manifestiert.

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