Radikale Vorfreude

29.1.2013, 09:13 Uhr
Radikale Vorfreude

© hvd

Angefangen hatte es vor gut einem Jahr. Es war lediglich eine Einladung zum Abendessen gewesen – in ein Restaurant mit Menüs, hinter deren Rezepten nun keinesfalls so etwas wie Raffinesse steckte. Nichts also, auf dass man sich besonders gefreut hätte. Ein Ereignis, das den Alltag mit einer kleinen Attraktion unterbricht. Mehr nicht.

Seine Vorfreude war also von leichter Art gewesen. Sie hatte am Nachmittag begonnen und sich gegen Abend hin eher gemäßigt verstärkt. Kurz bevor er allerdings seine Wohnung hätte verlassen müssen, um sich auf den Weg zu machen, hatte ihn eine plötzliche Eingebung aufgehalten.

Was, hatte er sich gefragt, wenn das Essen nicht nur mittelmäßig sein würde, sondern überhaupt nicht schmecken würde? Oder ihn die tödliche Langeweile überfiel, die er üblicherweise bei Themen empfand, über die man im erweiterten Freundeskreis an so einem Abend plaudert? „Habt Ihr dies oder das Rezept schon mal ausprobiert?“ „Was machen die Kinder?“ „Wie fährt Euer neues Auto?“ „Ist es nicht schrecklich, dass Hans und Gertrud sich getrennt haben?“

Nach all den Jahren mit den immer gleichen Geschichten, in denen nur die Protagonisten gelegentlich noch wechselten, saß er nur all zu oft im Grunde völlig desinteressiert daneben und lächelte und nickte geistesabwesend hinein in diesen Redeschwall von Unwichtigkeiten. Nein, entschied er, an diesem Abend nicht.

Diesmal wollte er die kleine Vorfreude vor einer später zerstörerischen, rauen Wirklichkeit bewahren. Er freute sich sogar ein wenig über diesen Entschluss, einfach daheim zu bleiben und damit einer möglichen Enttäuschung entgangen zu sein. Eine Belohnung der Vorfreude war das – wenn auch ganz anders als erwartet.

Das jedenfalls war der Beginn gewesen einer Entwicklung, die ihn letztlich zu einem überaus glücklichen Menschen gemacht hatte. Denn mehr und mehr hatte er im Laufe dieses Jahres die Erkenntnis gewonnen, dass der Spruch: „Vorfreude ist die schönste Freude“ unbedingt richtig war und die Erkenntnis unbedingt erhaltenswert. Nichts konnte die gute Laune noch steigern, die mit der Vorfreude verbunden ist, die sogar, wissenschaftlich belegt, tief greifende physiologische Veränderungen im Körper hervorruft, die sogar Krankheiten heilen können. Warum also sollte er die Wirkung dieser Art „Medikament“ mindern oder gar zerstören?

Das hieß logischer- und konsequenterweise, allen möglichen Enttäuschungen aus dem Weg zu gehen, erkannte er und war in der Folge z.B. Theaterabenden fern geblieben, die er einmal eingeplant hatte, später sogar, wenn er sich selber die Karten im Vorverkauf besorgt hatte. Er hatte Einladungen zu Geburtstagsfeiern angenommen, nur um kurz zuvor – ganz kurz zuvor – wieder abzusagen und nur die Freude auf die Feiern zu genießen – ungetrübt.

Er schmiedete Urlaubspläne – mit der insgeheim fast diebischen Freude, dass er den Urlaub nie antreten würde, um nicht von einem versprochenen, aber gar nicht vorhandenen Meerblick enttäuscht werden zu können.

Am Ende des Jahres saß er oft vor dem Telefon, wenn es klingelte und freute sich ganz schlicht, dass da jemand versuchte, ihn anzurufen. Warum um alles in der Welt hätte er das Gespräch annehmen sollen? Wahrscheinlich war es sowieso nur die Seifenstimme irgendeines Telekommunikationsunternehmens, die ihm zum x-ten Mal ein neues Handy-Flatrate-Festnetz-Super-Fernseh-Digital-Receiver-Angebot machen wollte. Oder, noch schlimmer, eine Bekannte war dran, die wissen wollte, ob er dies oder das Rezept schon ausprobiert hätte, was die Kinder machten oder sein neues Auto, oder was er davon hielt, dass Hans und Gertrud sich getrennt hatten. Nein, nicht mehr mit ihm. Voller Vorfreude saß er vor dem verheißungsvoll klingelnden Telefon, bis der Anrufer wieder auflegte und ihm damit eine mögliche Enttäuschung ersparte.

Nur einmal noch hatte er – quasi als eine Art Gottesurteil über seinen eingeschlagenen Weg – ein Gespräch angenommen, das sich mit nicht enden wollendem Klingeln aufgedrängt hatte. Es war die Seifenstimme eines Telekommunikationsunternehmens gewesen, die ihm ein neues Handy-Flatrate-Festnetz-Super-Fernseh-Digital-Receiver-Angebot unterbreiten wollte. „Klasse“, rief er mit beißendem Spott hinein in diese Leiertirade. „Wunderbar! Nehme ich!“

Und als er förmlich sehen konnte, wie die freundliche Dame am anderen Ende der Leitung einknickte wegen dieser unerwarteten Reaktion, legte er noch einmal nach: „Sagen Sie, liebe Frau“, dröhnte er ins Telefon, „haben Sie eigentlich schon einmal Physalis-Stachelbeer-Chutney auf Toast versucht? Unbedingt empfehlenswert! Ein Rezept, das Hans und Gertrud wieder zusammengebracht hat. Kennen Sie Hans und Gertrud?“ „Ja, eh, also...“ Der Seifenstimme war die aufgesetzte Contenance verlorengegangen. Nach einer kleinen, stillen Pause, klickte es. Die junge Frau hatte aufgelegt.

„Macht nichts“, dachte er, „es gibt viel zu tun.“ Es galt, einen Artikel für die Zeitung zu schreiben. „Ein Rezept fürs Lebensglück“ hieß der Auftrag. Das hatte er parat. Es war ganz einfach. Fragte sich nur, ob das Blatt den Artikel tatsächlich drucken würde, oder ob es den Nerv haben würde, ihn nur anzukündigen und den Leser so in eine Art Vorfreude versetzte, um ihn dann mit einer leeren Seite zu versetzen. Es wäre nur konsequent!



 

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