Reise in drei Zeiten

31.1.2012, 10:31 Uhr
Reise in drei Zeiten

© privat

1

Ich bin sehr jung an diesem Weihnachtsabend. Gemeinsam mit Vater laufe ich durch den Wald. Es ist dunkel. Wir gehen verschlungene Wege unter weiß bestäubten Bäumen entlang bis zu einer Lichtung. Die Schneefläche ist frisch und unberührt. Das Mondlicht versilbert alles, lässt die einzeln stehenden Bäume Schatten werfen, umrandet unsere Fußspuren. Ich schaue zu meinem Vater auf, der still in den Nachthimmel blickt. Er sieht dabei ein bisschen wie ein Indianer aus mit seinem ebenmäßigen, ernsten Gesicht. Dann schaut er mich an und lächelt mir über seinen Schal hinweg zu. Im Sommer spiele ich auf dieser Lichtung Indianer, zusammen mit anderen Kindern aus meiner Klasse. Wir kämpfen mit hölzernen Waffen. Ich werde gefangen genommen, sitze gefesselt an einem Baum. Annett pflegt meine Wunden, legt mir Blätter auf. Als sie mir nahe kommt mit ihrer weißen Haut und den kaffeebraunen Augen, zieht es mich zu ihr hin, ich genieße jede Berührung. Dieses Gefühl wächst über Jahre, bis ich sie im Kiefernwäldchen an der Schule umarme und ihre vollen Lippen küsse, ihr helles, von schwerem Haar umrandetes Gesicht ganz nah an meinem.

2

Seit zwei Jahren arbeite ich in einer Stadt weit entfernt von der alten Heimat. Über Weihnachten besuche ich meine Eltern. Ich laufe gern durch die altbekannten Straßen, suche nach Vertrautem. Selbst der Schnee duftet hier nach Kindheit. Die Straße, die ich gehe, ist schmal, unförmiges Kopfsteinpflaster mit tiefen Spurrinnen. Am Lindenplatz trafen sich damals die Freunde. Die Bänke sind neu, stehen aber an derselben Stelle. Das Klettergerüst gibt es noch, den Bäcker an der Ecke. Eine Frau mit Hund kommt den Weg entlang.

Sofort erkenne ich das Lächeln wieder, die hohen Wangenknochen, den hellen Teint. Ihr schweres braunes Haar ist offen. Annetts Hand fühlt sich gut an in meiner. Wir erzählen, packen Jahre in Minuten. Sie hat ihren langjährigen Freund verlassen, weil er zu eifersüchtig war. Ich ziehe mich gut an, sagt sie, gehe tanzen, flirte; das lasse ich mir nicht verbieten. Sie ist gerade frisch verliebt, vielleicht der Richtige diesmal. Du siehst gut aus, sage ich, weißt du, wie sehr ich dich mochte? Zum Abschied umarmt sie mich. Der Hund bellt, springt an uns hoch. Sie lacht. Ich präge mir ihre Grübchen ein.

3

Ich habe mein erstes Jubiläumsessen mit der Geschäftsleitung, dann ist wieder Jahresende, Resturlaub, endlich freie Zeit. Ich bin im Opernhaus. „Die Meistersinger von Nürnberg“ werden gegeben. Glockenhell steigt die Stimme des David auf; ich höre, wie mühelos dieser Ton erklingt und weiß, das wird ein besonderer Abend. Hans Sachs bewältigt kraftvoll seine langen Wegstrecken. Aufmerksam folge ich der Eva, die ihre Stimme leuchten lässt, eine blonde Sängerin mit einem Berührungstrio aus drei kleinen Leberflecken: am rechten Oberarm, rechts am Hals und an der Innenseite der linken Brust. Auch Annett hat zwei kleine Leberflecken an ihrem Hals. Ich fühle einen kurzen Stich bei dieser Erinnerung, dann lehne ich mich zurück, lausche dem Vorspiel zum dritten Akt.

Traurig beginnen die Streicher. Beim ersten Stoß der Hörner fröstele ich, eine Gänsehaut bedeckt meine Arme. Ich öffne die Augen, schaue auf das Orchester, wie es arbeitet, diese Musik zum Leben erweckt. Wie hat Wagner das gemacht? Er erschließt Räume in mir, die sonst gar nicht zugänglich sind. Seine Musik führt mich an einen Ort, nicht Vergangenheit, nicht Gegenwart, nicht Zukunft. Der Zeit enthoben, schwebe ich auf meinem Sitz über dem Strom der Jahre, Jahrhunderte, über dem Strom des Daseins selbst.

Nach der Vorstellung streife ich durch die nächtliche Stadt, berauscht, losgelöst von meiner Umgebung. Überall glänzt es weihnachtlich. Vor dem Bahnhof steht eine geschmückte Tanne. Reisende kommen und gehen. Wer bin ich heute, frage ich mich, während ich so laufe. Wie viel ist noch in mir vom Kind auf der silbernen Lichtung, vom Schüler bei seinem ersten Kuss, von all den Jahren, die wie ein anderes Leben erscheinen?

Zu Hause angekommen, stelle ich den Computer an, obwohl es fast ein Uhr ist. Im Internet suche ich nach Annett. Plötzlich habe ich ihr Bild vor mir, die kaffeebraunen Augen, die helle Haut, leicht rosig über den hohen Wangen, die perfekt geschwungenen Lippen. Es ist, als sähe sie mich an. Sie hat geheiratet und zwei Söhne zur Welt gebracht. Den ersten hat sie nach mir benannt. Obwohl es nur ein Name ist, bin ich glücklich darüber. Noch lange liege ich wach in dieser Nacht.



 

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