Russische Melancholie muss draußen bleiben

14.4.2018, 17:31 Uhr
Russische Melancholie muss draußen bleiben

© Foto: Hans-Joachim Winckler

39. Diese Zahl kehrt in den "Drei Schwestern" immer wieder. Mit 39 Jahren ist man ein gemachter Mann, eine verheiratete Frau, hat man sich etabliert. 39 ist die Chiffre für die soziale Torschlusspanik. Denn mit 40 sind alle Chancen verspielt. So gesehen, sind Tschechows Helden noch gut bedient, denn heute hängt das Damoklesschwert bei 29. Mit 30 gelten Jugend und Freiheit als abgetan.

Wer über diese Zahlen hinaus ist, kann über solche Ängste nur noch müde grinsen. Aber grinsen soll man ja nicht über Tschechows Charaktere, auch nicht unbedingt mitleiden. Was dann? Tschechow wird ja gern als der russische Melancholiker schlechthin inszeniert. Und wenn die Szene in einem schönen Interieur mit Ausblick auf ein Gartenparadies vom Baumarkt fällt, bekommt der Zuschauer augenfällig geboten, was – zumindest materiell – in den "Drei Schwestern" auf dem Spiel steht.

Genau das aber verweigern in der Kofferfabrik Nondorf und das TKKG-Ensemble. Seine drei Schwestern Olga, Mascha und Irina samt dem unfähigen Bruder Andrej und einer Clique von Offizieren und Salon-Intellektuellen agieren in einem sterilen weißen Raum. Überdies tragen sämtliche Personen weiße Papieranzüge, die sich lediglich durch wenige Farbstreifen und -tupfer voneinander unterscheiden. Damit stellt Nondorf von Beginn an eine Labor-Situation her, ein wenig so, wie sich Goethe seine "Wahlverwandtschaften" gedacht hatte: als Versuchsanordnung für menschliche Verhaltensweisen.

In diesem Chemielabor ist kein Platz für russische Melancholie. Außer auf der Musikspur, da darf man Tschaikowskis "Pathétique" frönen. Es geht um die Träume vom gelingenden Leben, wobei jeder seine eigenen Vorstellungen hegt. In Schlüsselmomenten unterbricht eine filmische Einspielung die Handlung, äußert sich die jeweilige Figur in Interviews zu ihren tiefsten Wünschen und Idealen. Als da wären: Freiheit, Ordnung, ein passives In Ruhe gelassen werden.

Diese Träume platzen allesamt. Aber nicht durch höhere Gewalt, sondern durch die Untätigkeit der Akteure. Obwohl Tschechow nicht mit Katastrophen geizt – der Bruder verspielt Haus und Garten, ein Brand legt die halbe Stadt in Schutt und Asche, ein Bräutigam fällt im Duell –, verlagert er diese Schicksalsschläge außerhalb der Bühne. Entscheidend ist, wie die Figuren darauf reagieren.

Groteske Brüche

Nämlich durch Zerreden, durch Totlabern, aber nicht durch Akzeptanz. Nur inszeniert Nondorf seinen Tschechow nicht als gehobenes Konversationsstück, sondern bricht die Bildungs-Noblesse der Figuren immer wieder auf, auch und gerade durch Mittel der Groteske. Etwa wenn die Fata Morgana "Moskau" mit dem gleichnamigen Hit der Schlagertruppe "Dschinghis Khan" illustriert wird, wenn die morbide Mascha (Doris Hanslbauer) sich in stereotyper Kopfweh-Pose gefällt und Mörikes Frühlingsgedicht rezitiert, die mädchenhafte Irina (Esther Sambale) und ihr Galan Tusenbach (Michael Nowak) die Faust zur Arbeiter-Revoluzzer-Pose recken oder die martialische Sowjet-Hymne angestimmt wird.

So entsteht beim Zuschauer ein seelischer Innendruck. Er verlangt nach Veränderung, sogar nach Katastrophen angesichts der Passivität der Figuren, die nach und nach alles verlieren. Mag sein, dass der Verlust des Materiellen wie der Utopien die Figuren auf ihr bloßes Selbst zurückwirft. Doch ob dieses Selbst noch zu Tatkraft und Gestaltung fähig ist, darf bezweifelt werden. Die Explosion im Chemielabor findet nicht satt. Eher eine Implosion.

"Drei Schwestern": Zum letzten Mal Samstag, 14. April, 19.30 Uhr, Theater in der Kofferfabrik (Lange Straße 81). Karten mit 20 Prozent ZAC-Rabatt im FN-Ticket-Point (Schwabacher Straße 106, Tel. 2 16 27 77) und ohne Rabatt an der Abendkasse.

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