Schwarzer Schatten

8.1.2013, 09:46 Uhr
Schwarzer Schatten

© De Geare

Manchmal war es so schlimm, dass er sich sofort setzen musste. Er meinte, es kämen Stiche aus seiner Brust. Mozart wartete einen Augenblick, rang nach Luft, wollte am liebsten sterben, doch diese beschwingende Melodie noch zu Ende bringen.

Er lief vom Klavier zum Billardtisch, riss die Fenster auf, obwohl es in Wien noch schneite, und verschwand in der Kochkammer, um sich Punsch zu holen. Es war schon das vierte Glas – und machte ihn nur beschwipst. Weder dem Alkohol noch seinen Gedanken gelang es, den inneren Druck auf ein erträgliches Maß zu schrauben. Er fühlte sich wie ein Zweispänner, der, von der Straße abgekommen, in einem Schlammloch steckte. Und gleichzeitig war er der Kutscher, der auf die Pferde drosch, doch die Räder drehten nur mehrfach durch. Immer schneller drehten sie sich, sie waren in seinem Kopf, in seiner Brust, in seinem ganzen Körper. Er konnte wie ein wild gewordenes Kaninchen über die Polster der Wohnung hüpfen oder sich vor seinem Klavier zur Ruhe zwingen, sich disziplinieren wie sein Vater – und dennoch: die Qualen blieben.

Er trank und dachte an gestern Abend: ans Bölzelschießen, an seinen letzten Ball, auf dem er bis zum Morgengrauen getanzt hatte. Was wusste sein Vater schon? Er hatte die Konstitution eines Bären; er musste sich anstacheln, um seine zweitklassigen Stücke herauszuwinden wie aus einer Zypresse den letzten Tropfen. Sein Vater, das war ein Fels, an dem die unangenehmen Gefühle abglitten wie Gletscherschnee. Er, Wolfgang Amadé, war von anderer Bauart – und verabscheute die Schüler, die er jeden Morgen und manchmal am Nachmittag unterrichten sollte. Die meisten waren nicht einmal unbegabt, doch sie stahlen ihm seine Zeit.

Er schrieb einige Noten nieder. Ja, so sollte es immer gehen, so musste das Scherzo klingen! Für einen Augenblick war er ganz er selbst, auf eine angenehme Weise euphorisch. Für einen Augenblick wusste er, warum er genau dieses Los gewählt hatte. Wenn die Ideen kamen und auf ihn einfeuerten wie die Gewehrsalven eines Bataillons, bestieg er immer eine Art Aufzug, der ihn in die unbewussten Regionen mitnahm. Dann war die Logik nichts, die gesamte Naturwissenschaft eine einzige Albernheit, dann gab es nur die Ahnung von einem Werk, das er behutsam, manchmal auch wild und zupackend und immer rücksichtslos bis in die hintersten Gassen einer niemals zuvor gesehenen Stadt verfolgte. Dann brauchte er keinen Schlaf, nur das Stück musste um seiner selbst Willen zu einem guten Ende kommen.

Am meisten litt seine Gesundheit. Manchmal war es ihm, als peitschte eine unsichtbare Gestalt mit grauenerregender Fratze auf seine bloße Haut. Sogar auf Festen konnten ihn diese Ausbrüche überfallen. Er schwitzte dann, machte derbe Späße, erzählte Zoten, um den Schatten für kurze Zeit fortzujagen. Sein Leben war nicht mehr das des Knaben, der manchmal an Rheumatismus litt, doch die musikalischen Prüfungen in den angesehensten Häusern mit Bravour bestanden hatte. Heute zog eine Ungeduld durch sein Blut, die nicht einmal eine Reise kühlen konnte. Er würde ja doch wieder nur zu sich selbst zurückfinden, alles würde sich wiederholen, er würde – das wusste er – noch auf dem Sterbebett komponieren.

Er schmiss die Feder in eine Ecke des Arbeitszimmers. Er brauchte sie nicht, er konnte sich alles merken. Nicht selten spielte er mit dem Gedanken, das Ganze hinzuwerfen, nie wieder zu musizieren, Aufträge nicht zu Ende zu bringen und jedes Notenblatt zu zerreißen. Erneut versuchte er eine Tonfolge. Nein, misslungen! Ich sehne mich, dachte er dann, nach einer Auszeit von meinem Werk. Ich möchte noch einmal von vorne anfangen.

Und plötzlich – waren die Töne da. Mozart fühlte sich in einen riesigen Konzertsaal versetzt, und von einem Augenblick auf den anderen war er neu belebt und jeglicher Schmerzen ledig.

Er notierte die Noten auf, schloss die Augen, versuchte das Stück von neuem und bemerkte, wie die Fußgänger vor seinem Fenster stehen blieben. Manche taten sich als Fremdenführer hervor und erzählten den anderen, dass in diesem Haus Mozart wohne, jawohl, er selbst, der Freimaurer und Komponist. Der Erschaffer der großen Opern, Wolfgang Amadeus Mozart, das Genie aus dem schönen Salzburg. Mozart lachte dann. Manchmal winkte er auch herunter und lud die Neugierigen – zum Leidwesen von Constanze – zum Essen ein. Meistens sprachen sie jetzt über sein Talent, wie glücklich man damit sei und wie einfach es wäre, damit zu leben. Mozart setzte sich ans Klavier. Er wollte nicht widersprechen. Er wollte spielen.
 


 

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