Verregnete Novembertage

24.8.2011, 12:00 Uhr
Verregnete Novembertage

© Hans Winckler

Es war ein grauer, hässlicher und verregneter Novembertag, an dem Lean geboren wurde. Seine Mutter durchlitt Höllenqualen, um ihren Sohn auf die Welt zu bringen. Sie lag noch Wochen erschöpft und mit hohem Fieber im Krankenhaus. Lean auf der Kinderstation.

Sein Vater, ein zynischer Choleriker, konnte sich nicht entschließen, nachdem er die Vaterschaft monatelang abgestritten und die Kindsmutter argwöhnisch beobachtet hatte, seine Frau ins Krankenhaus zu fahren und die Geburt zu begleiten. Er vertiefte sich an diesem Abend in ein Buch und trank eine Flasche Rotwein, bevor er trunken in seinem Lesesessel einschlief. Von seinem Sohn erfuhr er erst an Folgeabend von seiner Schwiegermutter, die ihn vorwurfsvoll anrief.

Der Start in Leans Leben stand unter keinem guten Stern, dennoch entwickelte er sich ordentlich. Trotz der emotionalen und körperlichen Attacken seines Vaters lernte er schnell krabbeln, die Kinder in seiner Krippengruppe und später im Kindergarten zielgerichtet zu terrorisieren und ihnen wehzutun. Widerstand kam nur wenig. Seine Erzieher erklärten sein aggressives Verhalten als Phase und unternahmen nur wenig. Grenzen lernte er nicht kennen. Im Gegenteil, seine Mutter nahm ihn immer in Schutz und sah in ihm das Opfer, das von den anderen Kindern ausgegrenzt wurde, und verteidigte ihn gegen alle Anfeindungen — gegen besseres Wissen.

In der ersten Klasse hatte er bereits die ersten Verweise, weil er nicht nur seine Mitschüler körperlich anging, seine Lehrerin zu schlagen versuchte und sie beschimpfte, sondern auch, weil er schließlich den Direktor vor der ganzen Klasse ein Arschloch hieß. Auch hier lernte er, dass Frechheit siegt und dass die nahezu lächerlich anmutenden Repressalien, wie die vielen leeren Drohungen, keinerlei Konsequenzen nach sich zogen.

Seinen Vater interessierte das alles wenig, er las weiterhin Bücher und trank Rotwein, wenn er aus der Firma kam und Lean ab und an schlug, um ihm Manieren beizubringen. Seine Mutter verteidigte ihn wie eine Löwin und sah in ihm das Opfer — das Opfer der Mitschüler, das Opfer der Lehrer, das Opfer seines Umfeldes. Die dritte Klasse wiederholte er, in der vierten Klasse wäre er wieder beinahe durchgefallen. Die Verweise stapelten sich, das Jugendamt aber sah seinen vermeintlich guten Charakter und seine Intelligenz, die er zweifelsohne hatte. Um sein Aggressionspotenzial zu kanalisieren, so meinte der Sozialpädagoge, wäre Kampfsport eine tolle Idee. Mit 15 war er eine unkontrollierbare Kampfmaschine.

An einem wunderschönen Frühlingsmorgen im April schwänzte er die fünfte und sechste Stunde Deutsch und traf in einer Eckkneipe gegenüber seiner Schule auf drei ältere Jugendliche. An diesem Tag trank er das erste Mal Alkohol, viel Alkohol, er stahl die ersten Zigaretten und schlug sich in der Fußgängerzone. Er lernte schnell. Er trank, rauchte, stahl, und zwischendurch erpresste er seine Mitschüler oder verprügelte sie. Gegenwehr erfuhr er nie.

Mit 24 hatte er bereits einige Semester auf der großen Universität der Gewalt und Kriminalität absolviert. Die Semesterferien verbrachte er mit sozialpädagogischem Segeln in der Südsee, Selbsterfahrungskursen in der Wüste von Nevada, mit Hofkehren in Altenheimen oder Wochenenden im Jugendarrest. Das alles war bedeutungslos für ihn und bremsen konnte ihn das alles nie, im Gegenteil. Ansonsten verbrachte er seine Zeit im drogen- und alkoholvernebelten Delirium.

Sein Vater las, trank Rotwein und drohte ihm. Seine Mutter sah in ihm das ewige Opfer, beschimpfte Lehrer, Eltern, Sozialarbeiter, Polizisten und Richter. Noch immer verteidigte sie ihn wie eine Löwin.

Lean traf seine einzige Liebe an einer Bushaltestelle an einem eiskalten Winternachmittag im Dezember. Zentimeterhoch lag Schnee auf den Straßen und Gehwegen. Sie, Irene, stand einfach da, sah ihm kurz in die Augen und drehte sich weg. Er verliebte sich in ihre braunen Augen. Drehte sich zu ihr, sprach sie leise an. Sie stieg einfach in den ankommenden Bus und fuhr davon. Er blieb stehen und starrte in den Schnee.

Sie sahen sich wieder, nicht ganz ein Jahr später. Zufällig in seiner Eckkneipe. Zwei Tage später besuchte sie Lean in seiner kleinen, verwinkelten Altbauwohnung am Stadtrand, neben der kleinen Kirche bei der großen Straße. Es gab Ravioli aus der Dose – er hasste Kochen – Rotwein und viel zu rauchen. Er war verliebt, sie war interessiert. Aber Liebe?

Er versuchte sie zu küssen. Sie wehrte sich und wies ihn in seine Schranken, zog die erste Grenze. Lean versuchte sie zu umarmen. Sie stieß ihn von sich. Lean schlug zu, fesselte sie und sperrte sie in die fensterlose Abstellkammer am Ende des dunklen Flurs. Danach ging er aufgewühlt in die Küche und trank Rotwein, viel Rotwein, rauchte, betäubte sich und seine Gedanken, die nach ihr schrien.

Seine Nachbarn hörten Irenes verzweifelte Schreie und riefen nach langen Stunden des Zauderns, Ignorierens und Überlegens schließlich doch die Polizei. Er hörte nur das Schreien seiner Gedanken.

Es war ein grauer, hässlicher und verregneter Novembertag, an dem er das zweite und letzte Mal mit einer sehr klar definierten Grenze konfrontierte wurde. Die Grenze der Grenzen.

Er hörte das Klopfen nicht, auch nicht das Rufen seines Namens, er hörte nur das Rauschen seiner diffusen Gedanken. Lean sah sie schemenhaft, die letzte Grenze, als das SEK die Tür eintrat und er mit dem Messer in der Hand von zwei Kugeln umgerissen wurde, wie ein nasser Sack in den Flur fiel und dabei seine letzte Grenze überschritt.

Gut eine Woche nach seinem 32. Geburtstag wurde Lean bei strömendem Regen beigesetzt. Danach trank sein Vater Rotwein, viel Rotwein und versuchte ein Buch zu lesen. Seine Mutter verfluchte die Welt.

 

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