Vom Fluch zum Segen in sechs Schritten

15.6.2011, 13:45 Uhr
Vom Fluch zum Segen in sechs Schritten

© Winckler

Die Segnungen des technischen Fortschritts stellen sich ja in aller Regel nach kurzer Zeit als Fluch heraus. Ein prägnantes Beispiel dafür ist das Mobiltelefon im Allgemeinen und das meinige im Besonderen.

Natürlich ist es ein Segen, wenn ich ortsunabhängig zu jeder Tages- und Nachtzeit die Telekom-Auskunft anrufen, Bilder und Texte verschicken oder einen Termin beim Zahnarzt ausmachen kann. Ganz egal ob in Fürth, Timbuktu oder Hinterhundsknobbernhofen – wenn einen zum Beispiel die Lust auf Sushi packt, ist binnen Minuten der nächste Lieferdienst ermittelt, das Gewünschte bestellt, und bezahlen kann man auch schon mit dem Taschentelefon. Dumm nur, dass nicht nur man selbst beliebig oft und tags wie nachts anrufen kann, sondern dass die Technik es möglich macht, genauso gut angerufen zu werden. Sei es nun der Mobilfunkbetreiber selbst, Banken, die händeringend Kredite loswerden wollen, Markt- und Sozialforschungsinstitute, die sich für meine Meinung zu Seifen, Fernsehkanälen und politischen Parteien interessieren, oder die zwei bis drei Mitmenschen pro Woche, die bei mir einen Fliesenschneider, ein Flurförderzeug oder einen Brennholzspalter käuflich erwerben wollen (meine Nummer ist bis auf eine Ziffer identisch mit der eines fleißigen eBay-Verkäufers), zu keiner Zeit an keinem Ort ist man sicher vor dem individuell eingestellten Klingelton.

Allein das wäre ja schon Fluch genug. Ist aber letztlich nur Lappalie, wenn erst mal die Technik selbst anfängt, sich gegen ihre Nutzer zu wenden. Wenn etwa das Mobiltelefon sich immer wieder ungefragt selbsttätig abschaltet, so dass man sich den Zorn der Gattin, des Chefs und etlicher Freunde zuzieht wegen permanenter Unerreichbarkeit. Dazu kommt dann noch eine plötzliche Amnesie des Gerätes, das sich eines Tages nicht mehr an in ihm gespeicherte Telefonnummern, Nachrichten, Fotos etc. erinnern kann.



Hier kommt nun ein weiterer Fluchsegen der heutigen Zeit ins Spiel: das Internet. Im weltweiten Datenstrom befindet sich ja bekanntlich alles, auch gute Ratschläge des Geräteherstellers oder Erfahrungsberichte anderer Unglücklicher, die dasselbe Schicksal mit demselben Modell ereilt hat.

Wenn einen das aber alles nicht weiterbringt, ist es Zeit, sich von der Moderne ab- und der Metaphysik zuzuwenden. Da es offensichtlich ist, dass ein Fluch auf dem Taschentelefon lastet, gilt es nun Wege zu finden, wie man diesen wieder lösen kann. Und dazu bedarf es keines Voodoo-Priesters oder Schamanen, nein, unsere christlich-abendländische Religion und eine Internetzugang genügen. Wo sonst als im verfluchgesegneten Internet gibt es unter einer hilfreichen Seite — nennen wir sie www.endlich-fluchfrei.de — eine Anleitung „Vom Fluch zum Segen in sechs Schritten“. Perfekt, denkst du, setzt dich eines Abends mit dem verfluchten Gegenstand in den Sessel und beginnst:

1. Nimm eine biblische Offenbarung wahr, die bezeugt, dass wir von allen Flüchen durch Jesus Christus erlöst wurden (zum Beispiel Galater 3, 14-15) – in Ordnung, wahrgenommen.

2. Bekenne deinen Glauben an Jesus Christus – Den Text kann ich immer noch auswendig, Haken dran!

3. Übergebe dich dem Gehorsam an Gott – Mach’ ich!

4. Vergib allen deinen Schuldigern; interessanterweise stehen als Beispiele in Klammern: Frau, Kinder, Lehrer, Polizisten. In dieser Reihenfolge! – Also gut, ich vergebe ihnen.

5. Bekenne alle Sünden vor Gott, deine eigenen sowie die deiner Vorfahren – Uff, das kann etwas dauern. Ich kriege ja kaum meine eigenen zusammen. Was ist dann mit meinem Urgroßonkel Hans, der meines Wissens in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Frau und Kinder in Bad Berneck sitzen ließ, um Hals über Kopf mit einer Baroness nach Südtirol zu verschwinden?

Aber gut, nach einigen Wochen habe ich ein umfassendes Register zusammen, das bis ins 19. Jahrhundert reicht. Nur mein Handy spinnt immer noch. Bliebe der sechste Schritt:

6. Löse dich von allem Okkulten: Bücher, Symbole, Bilder, Astrologie, Tarotkarten, Glücksbringer etc. Entferne all diese Dinge, die Gott ein Greuel sind, aus deinem Hause – Herr des Himmels! Ist ein Druck von Feininger okkult? Oder ein Harry-Potter-Band? Oder die Muschel von der bretonischen Atlantikküste?

Einige Tage später ist zwar die Wohnung fast leer, indes, das Mobiltelefon geht immer noch aus, wann es will. Ich denke, bevor ich mich nun von den letzten Karl-May- und Fünf- Freunde-Büchern trenne, besorge ich mir doch lieber ein neues Handy und verfluche meinerseits das Internet!