Von leeren Muscheln

20.8.2013, 12:00 Uhr
Von leeren Muscheln

© Michael Matejka

Ich bin pingelig, vor allem bei Wörtern. Bei einigen ist es ganz besonders schlimm, bei Neid zum Beispiel. Was ist das eigentlich? Heißt es jetzt grün oder gelb vor Neid? Warum ist Neid eine Todsünde? Was heißt hier: nur kein falscher Neid? Gibt es auch einen richtigen? Und was hat Ping Pinguin aus der Augsburger Puppenkiste mit all dem zu tun?

Sehr viel. Wir erinnern uns: „Wenn Wawa eine Mupfel hat, will ich auch eine Mupfel haben!“ Der nuschelnde Ping ist neidisch auf Wawas Schlafmuschel. Also besetzt er sie, das heißt: Er klaut sie – zumindest vorübergehend. Ähnliches passiert tagtäglich auf unzähligen Spielplätzen mit Sandkastenförmchen oder Schussern, ist bei Pinguinen und Kindern bis zu einem gewissen Alter auch vollkommen normal und wird gewöhnlich mit Tadel geahndet. Der führt zwar kurzfristig zu Tränen und Gebrüll, stärkt langfristig aber die Fähigkeit, zwischen mein und dein zu unterscheiden. In den meisten Fällen hält dieser Effekt bis ins hohe Alter.

Was aber, wenn Ping nicht einfach nur ein kindlicher Knallkopf wäre, sondern ein mieser, missgünstiger Pinguin, ein echter Arsch von einem Raffzahnvogel. In diesem Falle würde er Wawas Muschel nicht einfach nur besetzen, sondern kaputt machen. Motto: „Wenn ich keine Mupfel hab, soll Wawa auch keine haben!“

Auf den Menschen übertragen, würde dies zur millionenfachen Sprengung von Fahrzeugen, Swimmingpools oder Villen führen, wenigstens aber zum Abknicken des Sterns an Nachbars Benz. Tut es aber selten, denn die meisten von uns haben gelernt, sich zu beherrschen, wenn der Trieb uns übermannt – oder überfraut (prominenteste weibliche Ausnahme ist Schneewittchens Stiefmutter, deren Missgunst bekanntlich zu wiederholten tätlichen Übergriffen auf ihre Schutzbefohlene führte).

Man muss also unterscheiden: Der gesprengte Pool des Nachbarn, das gemeuchelte Schneewittchen sind Opfer der Missgunst, die besetzte Muschel hingegen die kurzsichtige Verzweiflungstat eines Augsburger Pinguins, der lediglich nicht schnell genug eine eigene bekommt. Damit ist Ping zugegebenermaßen ein leicht unterbelichteter, trotzdem aber vollkommen normaler Vertreter der Wettbewerbsgesellschaft, die es ohne Neid vermutlich nicht einmal aus der ersten Höhle herausgeschafft hätte. Von Evolution ganz zu schweigen.

Und damit zur Kirche, die sich beim Thema Evolution ja auch immer etwas schwertut. Sieben Todsünden gibt es – Neid ist eine davon. Das jedenfalls wurde ums sechste Jahrhundert herum beschlossen und seither gilt, dass Neid mit ewiger Verdammnis bestraft wird. Aber geht es da wirklich um Neid, oder nicht doch eher um Missgunst mitsamt all ihren Konsequenzen? Ist also Missgunst der falsche Neid und der richtige in Wahrheit gar nicht so verdammenswert? Wirkt er im Gegenteil nicht eher als Motivationsschub, als eine Art Entwicklungshilfe – vorausgesetzt man stellt sich der Herausforderung und ärgert sich nicht einfach nur grün oder gelb?

Von Leonard Bernstein heißt es, er sei als Kind aus einem Konzert des New York Philharmonic Orchestra herausgerannt – heulend vor Neid auf den Dirigenten. Vielleicht nur eine Anekdote, vielleicht auch ein Beispiel für richtig guten Neid. Denn wie sähe die Welt ohne ihn aus? Wie viele begnadete Künstler gäbe es ohne das neidische Schielen auf die Fähigkeiten anderer? Wie viele Wissenschaftler, Sportler, Unternehmer? Wie viele Autos, Kühlschränke, Villen gäbe es ohne den Neid auf den Besitz anderer?

Und überhaupt: Wie wäre es um eine Gesellschaft bestellt, die alles als unveränderbaren Status Quo akzeptierte? Millionen von Muschelschalen lägen ungenutzt herum, ohne dass nuschelnde Pinguine in ihnen schlafen würden. Und das wäre nun wirklich eine Sünde.

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