Von Mord und Totschlag

2.10.2018, 16:50 Uhr
Von Mord und Totschlag

© Foto: Jan-Pieter Fuhr

"Nicht wirklichkeitskompatibel", eine Häufung von Unwahrscheinlichkeiten – das ist Verdis Oper tatsächlich. Vielleicht hatte sie es nach der Uraufführung auch so schwer, im Rest Europas anzukommen. Umso wagemutiger war Regisseur André Bücker, zugleich Augsburgs Intendant, diese Fülle von Schauplätzen, von Vatermord und Duell, Kirche und Krieg auf die Augsburger Behelfsbühne im Martinipark zu bringen — das Stadttheater wird langfristig umgebaut. Und Praktiker Bücker weiß, wie man sich da hilft, wenn es keine Bühnenmaschinerie oder Seitenbühnen gibt: ganz Südamerika, Inka-Nachfolger und Conquistadoren, die Freiheitsarmee gegen Spanien und die Kokain-Industrie, alles hat Platz im Mädchenzimmer von Donna Leonora. Und alles ist nur ein Traum, den sie im Bett kuschelig überlebt.

Eigentlich sind sie in Verdis Original ja am Ende alle tot: ihr Liebhaber, der Inka-Erbe Alvaro, ihr Vater, der versehentlich erschossen wird, ihr Bruder Carlo, der absichtlich erschossen wird, sie selbst — aber natürlich erst, als der Reichtum von Verdis Musik unter dem Augsburger Kapellmeister Lancelot Fuhry in großen Arien, männlich kraftvollen Duetten, Chören und mit einer kecken Marketenderin abgearbeitet ist.

Bücker hat offenbar keine besonders gute Meinung von seinem Publikum: Er erklärt alles doppelt und dreifach, lässt die Bilder der verstorbenen Calatrava-Eltern mit grässlichen Grimassen Video-Kommentare abgeben, bringt Feldlazarett und rammelndes Kriegsvolk drastisch und blutverschmiert auf die Bühne. Das ist oft schädlich für Verdis Musik: Vor lauter Schauen, Rätseln versäumt man die schönsten Melodien. Vielleicht auch, weil man sich dauernd fragt, was in dem kleinen Metallkoffer ist, den die Hauptpersonen abwechselnd mit sich herumschleppen.

Teuflisch verliebt

Aber mit einem Koffer fängt das Ganze ja auch an: Da sieht man keine überstürzte Flucht des teuflisch verliebten Paars (Marquese-Tochter und Ureinwohner), sondern Leonora lässt in aller Ruhe ihren Rollkoffer packen, die Zofe hat schon die Flugkarten, und ihr Alvaro ist ein älterer Herr mit Sonnenbrille und knappen Jeans. Morgentoilette, Bettenmachen, Haarspray — dafür opfert diese aktualitäts- und realitätsbesessene Regie schon mal die wunderbare Ouvertüre aus dem Wunschkonzert-Paradies. Oder für den geheimnisvollen Kleiderschrank, der später als Kapelle oder Klostertür dienen muss: praktisch (Bühnenbild von Jan Steigert).

Ob Leonore das Abendkleid auf der Flucht wirklich braucht? In der Eremitenhöhle, wo sie endet, sicher nicht. Zu diesem Rollenkonzept der höheren Tochter passt Sally du Randt sehr gut: schlank, blond, mit hingebungsvollem Piano, aber nur ansatzweise mit der Leidenschaft ihrer Rollenvorbilder — die besten Tage sind vielleicht vorbei.

Routinierte Kraft

Zurab Zurabishvili stemmt mit viel routinierter Kraft alles in die verwegenen Tenorhöhen, die Verdi verlangt: aber ohne Legato, ohne Italianità — hauptsächlich laut. Stimmlich eher blass bleibt sein Calatrava-Gegner Don Carlo (Alejandro Marco-Buhrmester), und Stanislav Sergeev hat als tiefer Bass in Augsburg das Pech, als junger Sänger in die Rollen älterer Herren schlüpfen zu müssen — jetzt als Pater Guardiano, auch in Smetanas "Dalibor", das kürzlich in Augsburg Premiere hatte. Gespannt konnte man auf Natalja Boeva sein: im Sommer noch bei der Münchner Kammeroper, kurz darauf Siegerin beim ARD-Wettbewerb, jetzt fest in Augsburg engagiert. Sie singt spielfreudig, mit höhenbegabtem Mezzo und längst gefestigter Bühnenroutine ihre Preziosilla-Arien: ein neues Glanzstück im Ensemble. Mit dem Surrealismus/Traum-Konzept kann man alle Fragen an die Regie beantworten und erklären, auch den Pater aus dem Kleiderschrank. Und als die Traum-Leonora schon die Schlaftabletten hinuntergewürgt hat, kuschelt die reale Leonore mit ihrem Stoffhündchen weiter im Bett. Aus der Geschichte einer tödlichen "amour fou" wird hier eine aus dem "Grünen Blatt".

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