Wert des Kugelschreibers

2.5.2012, 09:20 Uhr
Wert des Kugelschreibers

© Thomas Scherer

Ich war erst in der Kühle der Morgendämmerung in eine Art geträumten Schlaf gefallen, als die Affen zu lärmen begannen. Die Horde, die im Urwald ansässig war, direkt hinter dem Apartmentblock. Kreischend erstürmten die Biester die Rückseite des Hauses, besetzten Dachsimse und Fensterbretter. Der Chef des Rudels, das monströseste aller Männchen, erkletterte die Stahlrohrleiter, die aufs Dach führte, und begann an ihr zu schwingen, so dass sie an den Beton schlug und das ganze Haus zitterte. Dasselbe Spiel – jeden Morgen.

Ich gab alle Hoffnung auf, noch einmal einschlafen zu können, sondern wartete darauf, dass um acht Uhr Siri klingelte. Siri verspätete sich kein einziges Mal. Und Siri klingelte immer, ehe sie die Wohnung betrat, egal ob die Tür offenstand oder nicht. Auch damals, als ich erst wenige Augenblicke zuvor meinen Koffer über die Türschwelle geschoben und mich in der nahezu leeren Wohnung umgesehen hatte, klingelte Siri und erklärte selbstbewusst, dass sie ab jetzt für mich arbeiten würde.

Als ich mich am nächsten Tag am Institut erkundigte, lächelte mein Gastgeber nur milde und sagte, zu jeder Wohnung gehörten ein oder zwei Dienstboten, ganz selbstverständlich. Oder ob ich im Ernst meine Wäsche selbst waschen wolle ...?

Siri war nicht viel älter als 25 Jahre, klein und dürr, mit der dunklen Gesichtsfarbe der Unterprivilegierten. Ihre Muttersprache war Tamil, im Englischen besaß sie – wie es so schön heißt – Grundkenntnisse. Barfuß betrat sie mein Appartement, schnappte sich den Besen und begann zu kehren. Den Staub schob sie auf ein Stück Pappe und warf ihn aus einem der hinteren Fenster – wenn möglich – einem der Affen auf den Kopf. Zehn Minuten später hatte der Wind allen Dreck wieder herein geblasen, aber die Symbolik des Aktes gab den Ausschlag. Anschließend ging Siri in der Duschecke auf die Knie, ließ lauwarmes Wasser in den Plastikeimer laufen, den ich auf ihr Geheiß hin im Kramladen an der Lagune erworben hatte, und stopfte Hemd und Unterhose, die ich am Vortag getragen hatte, hinein.

Einen Kühlschrank gab es zwar in der Wohnung, die mir das Büro für internationale Beziehungen zugewiesen hatte, und Prof. B., an dessen Institut ich zu Gast war, hatte mir gleich nach meiner Ankunft einen elektrischen Wasserkocher organisiert, so dass ich Kaffee und chinesische Fertignudelsuppen zubereiten konnte. Eine Waschmaschine stand mir jedoch nicht zur Verfügung, weder mir noch irgendjemandem sonst im ganzen Wohnblock. Waschmaschinen schienen in Südindien genauso rar zu sein wie Schneemänner mit Zylinderhut und Gelberübennase. Siri knetete die Wäschestücke in lauwarmer Seifenbrühe, wässerte sie dann auf dem Fliesenboden, wrang sie aus und hängte sie schließlich über ein grobes Seil, das sie kurzentschlossen quer durch das multifunktionale Zimmer spannte, in dem man alles machte außer schlafen.

Der Augenblick der Wahrheit war gekommen, als ich Siri zum ersten Mal ihren Lohn aushändigte, 500 Rupien. Weniger als zehn Euro für ein Monat, für indische Verhältnisse allerdings ein Heidengeld. Da ich mir keine Schwierigkeiten mit den lokalen Behörden einhandeln wollte, hatte ich eine Art Quittung, Summe, Zweck und Datum nennend, auf einen Zettel gekritzelt, und bat Siri um ihren Friedrich Wilhelm. Siri zierte sich jedoch. Es sei kein Problem, redete ich ihr zu, ich bräuchte nur einen Beleg, wie im Kaufladen.

Nein, das könne sie nicht unterschreiben. Sie müsse erst ihren Mann fragen. Überhaupt sei das undenkbar.

Ich beharrte auf meiner Bitte, so sehr sie sich auch sträubte, und am Ende gab sie klein bei und malte drei – vermutlich tamilische – Zeichen neben das Datum. Da begriff ich: sie war Analphabetin, voll Abscheu vor geschriebenen Erklärungen, die sie nicht verstehen konnte und die ihr zeitlebens nur Kummer und Ärger bereitet hatten.

Es dauerte noch ein paar Wochen, bis Siri anfing, von ihrem Alltag zu erzählen. Jeden Morgen ein winziges Detail, bis ich schließlich wusste, dass sie weit außerhalb der eigentlichen Stadt in einem Slum lebte, dass sie verheiratet war und zwei Kinder hatte, einen Jungen und ein Mädchen. Sie stand vor Sonnenaufgang auf und schürte Feuer, um die Reiskuchen für das Frühstück zu backen. Sie sorgte dafür, dass ihr Mann ein sauberes, gebügeltes Hemd vorfand, wenn er loszog, um irgendwo in der Stadt für ein paar Rupien Taschen oder Koffer zu tragen. Sie bürstete die Schuluniformen ihrer Kinder, kämmte ihnen die Haare und brachte sie zur Schule. Dann, wenn alle versorgt und aus dem Haus waren, wusch sie das Geschirr, rollte die Matratzen auf, fegte den Boden und vertrieb das Ungeziefer (Affen inbegriffen) aus den Winkeln der finsteren Hütte, in der die Familie hauste. Schließlich nahm sie den überfüllten Bus zur technischen Universität. Zweieinhalb Stunden dauerte die Fahrt in klaustrophobischer Enge, betäubt vom Lärm des Dieselmotors und durchgeschüttelt in zahllosen Kurven über mörderische Schlaglöcher. Außer für mich wartete sie noch in drei weiteren Appartements auf, ehe es zurück in den Slum ging, wo das Kochen, Putzen und Flicken weiter ging. Endlos, Tag für Tag.

Ein elendes Leben, keine Frage. Doch der skandalösen Armut zum Trotz wirkte Siri alles andere als elend. Sie strahlte unerschöpfliche Kraft und unbeugsamen Lebenswillen aus. Es war offensichtlich, dass sie ein Ziel hatte, für das sie bereit war, notfalls alles zu opfern einschließlich sich selbst.

Am Tag vor meiner Abreise kam ich dann auf die Idee, dass ich Siri etwas zum Abschied schenken sollte. Kein Almosen sollte es sein, sondern ein Erinnerungsstück. Doch über die Frage, was, zerbrach ich mir vergeblich den Kopf. Schließlich beschloss ich, ihr selbst die Wahl zu lassen. Ich bot ihr an, sich unter meinen Sachen etwas herauszusuchen, das sie gerne besitzen würde. Sie musste überhaupt nicht lange nachdenken.

Siri deutete auf den Esstisch. Da lag noch ein Päckchen Kugelschreiber mit dem Firmenlogo, das mir die Marketingabteilung mit ins Gepäck gegeben hatte.

„Give me pens“, sagte sie, „children use in school.“

In diesem Moment begriff ich die ganze Tragik ihrer Situation. Denn das eine Ziel, für das sie sich abrackerte, war, dass ihre Kinder lesen und schreiben lernten. Als sicherstes Mittel gegen Armut und Rechtlosigkeit. Als wichtigste Voraussetzung, dass es ihnen einmal besser gehen würde als ihr selbst.

Meine Meinung von Werbegeschenken war noch nie sonderlich gut, aber damals hatte ich das Gefühl, dass das Dutzend Kugelschreiber, das ich Siri überreichte, ausnahmsweise kein überflüssiger Krimskrams war. 



 

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