Wie der Euro ein Familienleben umgekrempelt hat

28.12.2018, 21:00 Uhr
Wie der Euro ein Familienleben umgekrempelt hat

© Foto: Freilinger

Der Schrei gellt über den ganzen Parkplatz. "Stooop", brüllt meine Tochter, als wäre ich kurz davor, sie mit einem Lastwagen zu überfahren. Mein Frevel? Ich will eine Euro-Münze in den Einkaufswagen stecken. Kurzzeitig habe ich vergessen: Wenn jemand von meiner Familie in der Nähe ist, kann ich das nicht einfach so tun. Das Geldstück muss zuerst durch die Sicht-Kontrolle.

Wie gut erhalten ist der Euro? "Vorzüglich", "sehr schön" oder gar "stempelglanz", die beste zu erwartende Kategorie? Ich darf jede Münze nur am Rand anfassen, auf keinen Fall mit dem Daumen darauf fassen. "Die Abdrücke sieht man manchmal erst Jahre später", erklärt mir meine siebenjährige Tochter.

Da freut sich Papa

Weiter geht die Bewertung: Ist das Hartgeld aus Deutschland oder hat es eine spannendere Herkunft? Jahrgang? Prägestätte? Meine Tochter kennt sich sogar aus mit Varianten oder Fehlprägungen. Das sind nämlich die wahren Schätze. Im Jahr 2002 kamen ein paar wenige Euro-Münzen in Umlauf, bei denen die Sterne ausnahmsweise radial ausgerichtet waren. Diese können schon mal einige hundert Euro und mehr wert sein. "Schau Mama, es kommt darauf an, wohin die Spitze vom Stern zeigt." Ich nicke.

Eigentlich ist mir das alles ziemlich egal, aber wenn ich Pech habe, fehlt mir nach der Überprüfung das nötige Kleingeld für den Einkaufswagen. Dann muss ich Milchtüten, Gouda und Tomaten auf meinen Armen stapeln. Die Tochter trottet hinterher und betrachtet beseelt das Geldstück: "Toll, Mama", lobt mich die Siebenjährige, "der Euro ist von 2012, Buchstabe G, also Prägestätte Karlsruhe, und fast stempelganz — da freut sich Papa." Ich konzentriere mich auf den Brokkoli im Gemüseregal und bleibe ruhig.

Der Vater meiner Kinder hat es wirklich geschafft, dass sein Münzen-Hobby in der Familie viral geht. Dabei ist es ungefähr so sexy wie Briefmarken-Sammeln – was er übrigens auch tut – oder Überzieh-Deckchen für Klorollen häkeln. Ich bin inzwischen die einzige, die Kleingeld für ein paar Zerquetschte hält. Die Frage "Haste mal ’nen Euro?" hat bei uns eine ganz eigene Bedeutung.

Gefühlt eine halbe Tonne Münzen lagert daheim — das meiste davon Centbeträge. Mehrfach schon sind die gefüllten Alben, Keksdosen und Asbach-Flaschen mit uns umgezogen. Alle Helfer haben geflucht, denn das Familienhobby wiegt schwer. 20 wälzerhafte Kataloge und Bücher mit Bildern zum Zuordnen kommen noch obendrauf.

Abends oder an den Wochenenden geht mein Freund mit beiden Kindern auf Schatzsuche. Dann wird der Esstisch zum Münzenmeer und es klimpert wie bei Dagobert, wenn die drei in großer Eintracht kleine Häufchen stapeln.

Er hat das Hobby von seinem Vater übernommen, los ging’s, als er sieben Jahre alt war. Unsere kleine Tochter ist fünf und schon voll dabei.

Letztens platzten zwei Nachbarinnen mitten hinein ins Dagobert-Szenario. Ich dachte: "Oh mein Gott, jetzt denken sie, wir wären reich" und sah schon die Panzerknacker vor der Tür. Doch am Ende sitzen die Frauen da und bauen Türmchen aus 1-Cent-Stückchen. Eigentlich fehlt nur noch, dass jemand ein Lied anstimmt: "Alle meine Centchen . . ." Ich werde wahnsinnig.

Sind die Taler nach Wert und Ländern sortiert, geht es weiter nach Prägestätten und so fort. Um den Schatz zu heben, also beispielsweise mal eine 1-Euro-Münze, die wegen einer Variation am Adlerbild vielleicht zehn oder 20 Euro wert ist, besuchen wir regelmäßig Flohmärkte oder stöbern im Internet. Ich saß auch schon mit einem Klappstuhl in der Schlange vor der Landeszentralbank als wieder irgendeine Sonder-Exotik-Münze erschienen ist. Zum Münzhändler geht mein Freund nur selten. "Da fehlt mir der Schatzsucher-Effekt."

Bei allem Schlangestehen und Einkauf-Geschleppe gibt es auch die andere Seite der Medaille. Die Türmchen auf dem Esstisch bringen uns nämlich in die Sonne. "Es ist die einzige Chance, dass ich spare", sagt der Mann. "Also beschwer’ dich nicht." Deshalb muss vor jeder Reise sorgfältig aussortiertes Klimper-Geld im Münzzählautomaten bei der Landesbank verschwinden. Wenn der Zähltrichter die Euros gefressen hat und sie sich in virtuelles Geld auf dem Urlaubskonto verwandeln, bin ich zufrieden.

Suche nach 50 Pfennig

Münzfrei bleibt der Urlaub aber meistens nicht. Denn natürlich müssen wir Fürstentümer ins Visier nehmen. Liechtenstein und Monaco sind spannend, denn da kommen weniger Münzen in Umlauf — sie sind also gleich auch größere Schätze. Zum Beispiel wurden in Monaco zum 25. Todestag von Grace Kelly 20 001 2-Euro-Stücke geprägt. Das für Sammler wertvollste Einzelstück regulärer Prägung hat einen Wert ab 1000 Euro, wurde aber nur in Sammelsets ausgegeben.

Einen solchen Preis würde sowieso niemand aus meiner Familie je dafür bezahlen. "Schatzsuche macht nur richtig Spaß, wenn die Münzen im Umlauf sind." Oder im Umlauf waren. Das Lieblingsstück in der Familiensammlung ist ein 50-Pfennig-Stück von 1950 mit der Prägung "Bank deutscher Länder". Eigentlich müsste da nämlich schon stehen: Bundesrepublik Deutschland.

In der Prägestätte war zunächst der falsche Stempel im Einsatz gewesen. Der Münzmeister hatte dann entschieden, dass die Bank-deutscher-Länder-Münzen trotzdem ausgegeben werden. 30 000 Stück kamen in den Umlauf, bei durchschnittlicher Erhaltung ist ein Stück ungefähr 200 Euro Wert. 20 Jahre lang hatte mein Freund danach gesucht — aber das war noch zu D-Mark-Zeiten.

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